Dead Souls: Horror (German Edition)
Schmetterlinge, seine Haut kribbelte vor nervöser Vorfreude. Alles war so bittersüß: Er hatte den Großteil seiner 18 Jahre, zumindest die, an die er sich erinnern konnte, in Manhattan unter dem Dach eines Sandsteinhauses an der Upper East Side verbracht, 28ste zwischen Lexington und Park Avenue. Jetzt sah er das : Bäume und Bergabhänge, die in unendlichen Feldern ihre Braun- und Grüntöne zeigten; die versteckte Sonne, deren filterndes Tageslicht es immer noch schaffte, die feuchte Umgebung zu erhellen. Trotz der Einfachheit war es solch ein großer Augenschmaus für seine Städter-Augen. Südlich von Providence, an der I-95, bekam er einen Waschbären oder ein Opossum zu Gesicht, das sein Schicksal unter den Reifen irgendeines bescheidenen Fahrzeugs gefunden hatte, aber sogar das war als etwas Neues und Aufregendes anzusehen. Die ländliche Gegend, ja, genau das war es, und er verfluchte sich selbst – seine Eltern – dafür, vorher niemals weiter nördlich als Westchester County gegangen zu sein.
Lieber Gott, meine Eltern. Tränen schossen ihm in die Augen.
Leider hatte sich bis jetzt nie eine gute Gelegenheit ergeben. Mary Petrie hatte ihren Jungen an einer sehr kurzen und knappen Leine gehalten, während er herangewachsen war. Mit der Stadt als einen gefährlichen Ort und so weiter wurde Johnny gezwungen, sich an die Wege und Zeitpläne zu halten, die ihm aufgetragen wurden, der Besuch (und schließlich das erfolgreiche Abschließen) der St Anthony’s Catholic School (eine Hundeschule, wenn man ihn fragte), statt der PS 35, die mehr als zehn Blocks entfernt war – sie hätte genauso gut auf der anderen Seite der Welt sein können. Den ganzen Sommer lang musste er seine katholische Religionslehre an der St Anthony’s fortsetzen, und er fügte sich respektvoll, trotz seiner Bitten, eine normalere Schulbildung im College zu erhalten. An den Wochenenden gestattete man ihm Freizeit im Central Park, aber nur, wenn Mary oder Ed dabei waren, oder wenn sich ihm eine erwachsene Aufsichtsperson anschloss, vorzugsweise ein gottesfürchtiges Elternteil eines wohlbekannten Schulfreundes. Mary Petrie hatte alles zu Johnnys Besten getan, zumindest ihrer Auffassung nach, ihn mit all der Liebe und Geborgenheit behandelt, die ein Kind von einem Elternteil erwarten konnte. Das und so viel mehr.
So viel mehr …
Er musste an seine Mutter denken, daran, wie sie ihn jeden Tag erinnern würde, wenn er gegen ihre Geborgenheit protestierte: Denk daran, Johnny, alles, was ich tue, tue ich für dich. Eltern wissen es viel besser als ihre Kinder. Gott hat uns erschaffen, damit wir euch vom Bösen wegführen, euch den Unterschied von richtig und falsch beibringen. Damit wir euch vor dem Bösen der Welt beschützen … das ist meine einzige Bestimmung, gelobt sei der Herr! Trotz der Eigenarten und dem religiösen Eifer seiner Mutter liebte er sie … Er würde sie immer lieben; nachdem er seine komplette Kindheit und Jugend unter der Kontrolle ihrer unterdrückerischen Disziplin verbracht hatte, stellte er jetzt fest, dass sie alles aus Angst getan hatte – eine Angst, die sie nicht fähig war, zu verstehen.
Doch dann fragte er sich: Ist sie wirklich nicht fähig, ihre Ängste zu verstehen? Hinter der Geschichte steckt viel mehr, was sie mir nicht erzählt, so viel Verletzung, so viel Schmerz. Sie hat ihr ganzes Leben damit verbracht, mich davon abzuhalten, es zu erfahren. Nein, sie versteht ihre Ängste und hält sie in der Dunkelheit ihres ganzen Lebens verschlossen. Jetzt, lieber Gott, sind sie draußen, und sie hat zu viel Angst, sich ihnen zu stellen, sie mir zu offenbaren.
Ironischerweise hatte Johnny sein ganzes Leben damit verbracht, jeder Forderung seiner Mutter zu gehorchen, weil er sich vor ihr fürchtete. Also war er auf eine komplizierte, umständliche Weise imstande, mit ihr zu fühlen – er konnte die seltsame Richtung erkennen, aus der sie all die Jahre gekommen war. Aber es gab einen sehr wichtigen Unterschied zwischen ihnen: Johnny hatte endlich die Kraft gefunden, sich seinen Ängsten zu stellen, und er war fähig, vor ihnen zu fliehen, etwas, das Mary Petrie nie hatte erreichen können, trotz ihrer Unterstützung von Jesus und den Ärzten und den Kirchengruppen.
Ich bin vor meinen Ängsten geflohen … davor und vor so viel mehr …
So viel mehr …
Der Bus wechselte die Spur, was ihn aus seinen Gedanken riss. Er fuhr an einem Schild vorbei, auf dem »Dover, Ausfahrt 43« stand. Johnny schaute
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