Dead Souls: Horror (German Edition)
weiterhin aus dem Fenster; die Natur-Kulisse verschwamm, als er noch einmal die Ereignisse durchging, die weniger als 24 Stunden vorher sein Leben – das Leben seiner Eltern – verändert hatten …
06. September 2005
15:38 Uhr
Er kehrte von der Bibliothek (der einzige Ort, bei dem er sich nicht schuldig fühlte, wenn er ohne das Wissen seiner Mutter dorthin schlich) nach Hause zurück und holte die Post aus dem beschlagenen Glaskasten in der Lobby. Er ging drei Stockwerke die Stufen hoch, anstatt mit dem Aufzug zu fahren, weil der alte Mann aus 4F, der nach Blumenkohl roch, gerade eingestiegen war, und Johnny wollte so eine unvergängliche Qual wirklich nicht ertragen. Sobald er im dritten Stock angekommen war, betrat er das Zwei-Zimmer-Apparte-ment und warf die Post auf den Küchentisch; er verschwendete nie einen Gedanken daran, sie durchzusehen, da nie etwas für ihn ankam, außer seiner monatlichen Lieferung von Catholic Digest – eine der wenigen Zeitschriften, die Ed und Mary guthießen. Er ging in sein Zimmer, warf seinen Rucksack auf das Bett und zog sich eine kurze Hose und ein T-Shirt an, während er dachte, wie er an den nächsten 90 Minuten, bevor seine Mutter um fünf Uhr nach Hause kam, Gefallen finden könnte. Vielleicht las er die Ausgabe von Wells’ Krieg der Welten , die er in der Bibliothek ausgeliehen hatte, oder schaute sich eine Talkshow an, die auf dem UHF-Kanal kam, von dem seine Eltern nichts wussten. Es handelte sich um ein tägliches Ritual, diese Zeit für sich, in der er an einigen einfachen Vergnügungen des Lebens (gottverlassene Sünden, wenn man seine Mutter fragte) teilnehmen konnte, bevor er sich den Launen und Gepflogenheiten seiner Mutter zuwenden musste. Er musste seine Hausarbeiten erledigen – von jedem 18-Jährigen wurde erwartet, etwas zu tun – entweder den Müll hinauszubringen oder beim Abendessen zu helfen; aber Mary ging bei Johnny bis an die Grenze, indem sie dafür sorgte, dass das Badezimmer sauber und frei von Keimen war, die zweifelsohne verwest waren, wenn das Haus leer war; oder die Regale im Kühlschrank, Gott bewahre, wenn sich irgendwelche umherirrenden Krümel aus dem Brotbeutel befreit hätten. Und dann, nach dem Abendessen würde Johnny gezwungen werden, seine Bibelstudien durchzuführen, vor aller Augen am Küchentisch sitzend, damit sich sein Verstand nicht verirrte. »Es gibt mehr als genug, um dich bis zur Schlafenszeit zu beschäftigen«, würde Mary sagen, ohne Rücksicht darauf, ob er Schulaufgaben hatte oder nicht. Und dann würde sie mehr als einmal hinzufügen : Und vergiss nicht zu beten, bevor du zu Bett gehst!«
Er ging ins Badezimmer, wusch sich, dann zog er den Medizinschrank auf und wurde von dem gleichen entmutigenden Gefühl erfasst, das er immer bekam, wenn er diese Routine durchführte. Die neue Flasche des Tages hatte den Namen Lexapro , aber Johnny hatte keine Ahnung, für welche Behandlung man es benutzte, jedenfalls noch nicht. Sie stand neben ein paar Dutzend anderer Flaschen, die Endergebnisse davon, dass Mary Petrie jeden Tag um 15:00 Uhr ihre Pflichten als Rechtsanwaltsgehilfin beiseitelegte, damit sie um 15:15 Uhr im Wartezimmer der Praxis irgendeines nicht-diskriminierenden Arztes an der Upper East Side Platz nehmen konnte, in der hoffnungsvollen Suche nach dieser magischen Tablette, die all ihre Beschwerden heilte. Johnny hatte ein wenig nach den Sorgen seiner Mutter recherchiert, sich die Namen auf den Zetteln der winzigen braunen Flaschen aufgeschrieben – unter anderem Valium, Darvocet, Xanax, Celexa – dann suchte er sie im Netz der Bibliothek heraus. Er fand heraus, dass seine Mom eine beträchtliche Anzahl an persönlichen Problemen hatte, solche, die sie nie auswählte, um darüber zu reden, zumindest mit Johnny. Zwangsneurose, generalisierte Angststörung, Panikattacken (er hatte sie nie panisch erlebt, also war er sich nicht gerade sicher, worum es dabei ging), Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitätsstörung, darunter einige andere ernst klingende psychische Krankheiten. Johnny fragte sich, ob es eine Tablette gab, die sie nehmen könnte und die ihre »knallharte Kontrollstörung« und »übereifrige Jesus-Verehrungsstörung« lindern würden.
Er holte eine Flasche Ibuprofen heraus (eine der vielen nicht verschreibungspflichtigen Flaschen, die in das unterste Regal der Medizinschrank-Hierarchie abgeschoben wurden), klappte den Deckel auf und schluckte zwei Tabletten trocken hinunter, eine
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