Dead Souls: Horror (German Edition)
Vorsorgemaßnahme, um den Kopfschmerzen entgegenzuwirken, die er bestimmt bekommen würde, wenn Mary nach Hause zurückkehrte.
Er schloss den Medizinschrank und schaute in den Spiegel, das Gesicht schräg ansehend, das ihn ebenfalls anstarrte: lammfromm und schüchtern, die Haut mit Akne übersät; Haare kurz und lockig, bereits Geheimratsecken, die Aussicht auf eine Glatze vielleicht sechs oder sieben Jahre entfernt. Er rieb sich die Augen, dann lief er aus dem Badezimmer, der Holzboden knarzte laut unter seinen Schritten.
Er öffnete den Reißverschluss an seinem Rucksack und holte die Schulbücher heraus, als er seine Gedanken seinem Vater widmete, eine Handlung, die nicht so häufig durchgeführt wurde. Er blickte zu dem Foto seiner Eltern hinüber, das auf dem Nachtschränkchen stand – eine dekorative Auswahl seitens Mary; es passt zu dem Jesus-Portrait an der Wand , hatte sie einmal gesagt – und das Johnny selbst vor wenigen Monaten aufgenommen hatte, nur kurz bevor sie alle an der Beerdigung der Arbeitskollegin seiner Mutter teilgenommen hatten. Ein seltsamer Zeitpunkt, um ein Bild des Wohlstands zu schießen, dachte Johnny. Ed Petrie war ein dicker Mann, der jetzt die dunklen Locken verlor, die er an Johnny weitergegeben hatte; an diesem einzigen Merkmal endeten jedoch ihre Ähnlichkeiten. Im Gegensatz zu Johnnys drahtiger Figur schob Ed einen Bauch wie einen Medizinball vor sich her, der über seinem Hosenbund explodierte und der es fast unmöglich erscheinen lassen musste, seine Weichteile ausfindig zu machen, um zu pinkeln, entsann Johnny. Sein Hemdzipfel hing immer heraus – wie auf dem Foto – und er hatte immer eine Rasur nötig. Er hatte einen Job – einen Gewerkschaftsjob , würde er angeben – als Hafenarbeiter am Pier 121 direkt unter der Brooklyn Bridge. Er trank oft und rauchte sogar noch mehr.
Ed war ein großer Schwächling, was Johnnys Mutter betraf, er gab ihren ganzen Eigenarten und religiösen Anfällen mit ruhigen Antworten wie »Ja, Liebling«, und »Natürlich, Schatz« nach. Er rieb sich bei jedem ihrer Worte die Augen, höchstwahrscheinlich in der Hoffnung, dass sie verschwunden wäre, wenn er sie wieder öffnete. Natürlich war sie in all ihrer bibelschleudernden Pracht noch da, dabei rezitierte sie die Gebete des Herrn oder die 23 Psalmen, und er hatte keine andere Chance, als nachzugeben und ihr die Freiheit zu lassen, den Haushalt unter ihren einschränkenden Richtlinien zu führen, solange er in der Lage war, zwölf Stunden am Tag arbeiten zu gehen, Montag bis Freitag, und sich an den Wochenenden die neuesten Sportereignisse in Glens Taverne anzuschauen. Ed hatte die meiste Zeit damit verbracht, Marys Zorn zu meiden. Und Johnny.
Johnnys Verhältnis zu seinem Vater war unbedeutend, ihre Unterhaltungen wurden auf einem absoluten Minimum gehalten. Manchmal würden Wochen vergehen, ohne dass sie ein einziges Wort miteinander wechselten; Tatsache war, dass Johnny seinen Vater nur an den Wochenenden sah, irgendwann zwischen Mittag und 15:00 Uhr, nachdem Ed aufgewacht war, bevor er zu Glens Taverne an der 2 nd Avenue und der 44sten Straße loszog. Für Johnny war es offensichtlich, dass Ed Petrie niemals wirklich ein Kind gewollt hatte – der Mann war ein riesiger fauler Nichtsnutz, der seinem Sohn nur Aufmerksamkeit schenkte, wenn er mit Händen voller Lebensmittel aus dem Food Emporium zurückkehrte (seltsamerweise durfte Johnny allein zum Supermarkt gehen, aber Mary würde immer den Zwei-Block-Spaziergang mit einem strengen »Verlauf dich nicht!« einleiten, gefolgt von einem nachdrücklichen Kreuzzeichen; scheinbar war die Tatsache, Essen im Haus zu haben, es wert, dafür das Leben ihres Sohnes zu riskieren). Seltsamerweise freute sich Johnny immer über das Lächeln im Gesicht seines Vaters, wenn er die Tüten mit Lebensmitteln übergab.
Er wandte seinen Blick schnell von dem Bild ab, dann kramte er das H.-G.-Wells-Buch aus seinem Rucksack heraus. Er warf es auf das Bett und ging wieder in die Küche, wo er sich Milch aus dem Kühlschrank holte und sie direkt aus dem Karton leer trank, ein Akt, der Marys Meinung nach ewiger Verdammnis würdig wäre.
Während er trank, huschten seine Augen zum Küchentisch, wo ein heller beiger Umschlag zwischen den Seiten einer Drogerie-Postwurfsendung hervorragte. Er konnte die Anschrift des Absenders deutlich erkennen, sie war in dunkler, altmodischer Schriftart gedruckt:
Andrew Judson, Rechtsanwalt
14 Main Street
Wellfield, ME
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