Deborah Crombie - 05 Das verlorene Gedicht 06 Boeses Erwachen
Er war in diesem Alter eher dünnhäutig gewesen. Aber jetzt, seit sich seine Sensibilität in wütenden Trotz verwandelt zu haben schien, war sie unfähig, überhaupt zu ihm durchzudringen.
Im Garten war es still. Nur das Summen der Hummeln im Lavendel war zu hören. Niemand war zu sehen. Die einzigen Zeichen von Aktivität waren ein zerbrochener Kricketschläger und ein alter Gummiball im dichten Gras. Am Ende des Gartens stand die Tür zum Schuppen offen. Das kleine Fertigbauhäuschen war Jos Zuflucht und Studio.
Sie hatte die Außenwände in einer Farbe gestrichen, die sich Labrador-Blau nannte, und das Holz der Fenster weiß abgesetzt. Drinnen hatte sie die Wände mit Beize behandelt und den Raum mit alten Möbeln, einigen Gießkannen und Büchern ausgestattet. Hier experimentierte sie mit ihren Qualitätslacken, für die sie bekannt war, oder las oder versuchte gelegentlich einfach, mit ihrem Leben klarzukommen. Der Zutritt zum Schuppen war beiden Kindern strikt untersagt.
Langsam überquerte sie den Rasen und trat ein. Harry saß auf dem Boden mit dem Rücken zum Bücherregal, die Knie bis zum Kinn hochgezogen. Neben ihm lag der schöne Glaskrug, in den sie Rosen aus dem Garten gestellt hatte, und der Henkel war abgebrochen. Wasser perlte auf dem Fußboden und lief in den Flickenteppich; Rosen lagen überall kreuz und quer wie die Hinterlassenschaft eines Gewitters.
Jo kniete nieder und berührte seine Schulter. »Hast du dich daran geschnitten? Bist du in Ordnung?« Als er nicht antwortete, nahm sie seine Hände von den Knien und untersuchte sie. Sie waren unverletzt. Sie behielt eine Hand in der ihren und versuchte es erneut: »Harry, hast du die Vase zerbrochen, weil du so wütend auf mich bist? Du weißt, daß das, was du gestern abend gemacht hast, falsch war. Aber vielleicht war es falsch von mir, dich zu bestrafen, ohne vorher mit dir zu reden.«
Harry drehte den Kopf noch weiter von ihr weg, und der Sonnenstrahl, der durchs Fenster fiel, ließ sein Haar wie Feuer leuchten. Was für eine Ironie des Schicksals, dachte Jo, daß, während Sarah ihr kastanienbraunes Haar geerbt hatte, Harry eigentlich von ihrer Schwester hätte stammen können. Und von ihrem Vater, der Annabelle Jo stets vorgezogen, all seine Erwartungen auf Harry als den Erben fixiert hatte, wenn auch nicht des Familiennamens so doch der Familientradition wegen.
»Manchmal können sich auch Mütter irren«, fuhr sie fort. »Aber ich muß dir irgendwie begreiflich machen, daß du anderen Menschen nicht solche Dinge sagen darfst. Ich bin sicher, du hast Annabelle sehr weh ...«
»Ist mir völlig egal.« Harry entzog ihr abrupt seine Hand und sah sie zum ersten Mal an. »Sie ist eine Hure. Ich wollte ihr weh tun.« Er blinzelte, und Tränen kullerten zwischen seinen blaßblonden Wimpern hervor.
»Harry, benutz diese Ausdrücke nicht. Du weißt genau ...«
»Ist mir egal. Ich hasse sie.«
»Harry, Schätzchen ...«
»Nenn mich nicht so!« Er sprang auf und baute sich vor ihr auf. »Ich bin nicht dein Schätzchen! Und ich hasse dich genauso.« Die Tür schlug krachend hinter ihm zu. Dann war er fort.
Die Münzen klimperten in unregelmäßigem Stakkato in Gordon Finchs Klarinettenkasten. Die Kinder warfen sie, kamen so nahe, wie sie es wagten, und selbstvergessen in ihrer Faszination, bewegten sie ihre Körper unbewußt in Richtung zur Musik. Die kleinen Mädchen und Jungen hatten bei der Hitze freie Oberkörper, und ihre Rippen zeichneten sich unter ihrer Haut ab wie die zarten Adern eines Blattes. Ihre Gesichter waren von der Sonne gerötet, und einige hielten halbver-gessen Eiswaffeln in klebrigen Fingern.
Er beneidete die Kinder um ihre schlichte Unschuld, ihre Unverdorbenheit, denn es war abzusehen, daß jemand kam und all das zunichte machte. Ein Glück, daß ihm die Verantwortung für ein anderes Menschenleben bislang erspart geblieben war. Die Sorge für Sam war ungefähr das Maximum dessen, was er bewältigen konnte. Alles andere würde ihn um den Verstand bringen.
Er spielte Cherry Blossom Pink zu Ende und wischte das Klarinettenmundstück ab. Die Kinder sahen ihm mit großen Augen zu und hüpften in gespannter Erwartung auf und ab. Ihre Eltern standen hinter ihnen; einige hatten sich auf den kniehohen Eisenzaun gesetzt, der die Blumenrabatte vom leicht schwülstigen Bogeneingang des Fußgängertunnels der Isle of Dogs trennte. Er hob die Klarinette erneut an die
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