Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Deborah Crombie - 05 Das verlorene Gedicht 06 Boeses Erwachen

Titel: Deborah Crombie - 05 Das verlorene Gedicht 06 Boeses Erwachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Deborah Crombie
Vom Netzwerk:
Lippen und intonierte ein paar Takte von London Bridge. Die Kinder begannen zu kichern. Er hielt inne, dachte einen Moment nach, zerbrach sich den Kopf darüber, welche Melodien sie mögen könnten, und improvisierte schließlich über die Leitmelodie von Here We Go Round the Mulberry Bush.
      Er, der Rattenfänger mit der Klarinette, ging anschließend zu Ob-La-Di, Ob-La-Da über, und spielte danach When I’m Sixty-Four aus dem Sergeant-Peppers-Album der Beatles, und die Kinder hüpften und wiegten sich glücklich im Takt. Nach einiger Zeit jedoch wurden die Eltern unruhig, und eine Familie nach der anderen ging weiter. Sie haben alle einen genauen Tagesplan, dachte er, während er sie davongehen sah ... Da waren Orte, wohin sie gehen konnten, Dinge, die sie tun mußten, Leute, die sie besuchen wollten. Er beneidete sie doch wohl nicht darum, oder?
      Er beendete das Stück, trank einen Schluck Wasser aus der Flasche, die er am Kiosk einige Meter entfernt gekauft hatte. Er stand mit dem Rücken gegen die Platane mit den frischen, grünen Knospen am hinteren Ende von Island Gardens. Hinter ihm, direkt auf der anderen Seite des Baumes, verlief die Uferpromenade am Fluß entlang. Leute schlenderten in dem langsamen Tempo vorbei, das die sommerliche Hitze diktierte, blieben gelegentlich stehen, um auf einer der Bänke auszuruhen oder auf das grelle Glitzern der Themse hinauszuschauen. Direkt über dem Fluß zogen die weiten Zwillingskuppeln des Royal Naval College, der Königlichen Marineakademie, unweigerlich die Blicke auf sich, deren Form sich im Gewölbe des bereits in Greenwich gelegenen Fußgängertunnels wiederholte.
      Zwischen dem Naval College und dem Tunnel ragten die hohen Masten der Cutty Sark auf, die am Greenwich-Pier auf dem Trockendock lag. Das Schiff war das letzte Exemplar jener herrlichen Schnellsegler, die einst ihre Ladung an den East End Docks gelöscht hatten, und er hatte sich oft gewünscht, zumindest das Ende dieser Ära noch miterlebt zu haben. Aber dazu war er zu jung. Neben der Cutty Sark allerdings bewies die über die Toppen geflaggte, wesentlich kleinere Gipsy Moth, daß Abenteuer noch immer möglich waren. Imjahr 1967 nämlich hatte Sir Francis Chichester die kleine Yacht per Einhand um die Welt gesegelt.
      Eine Reise um die Welt wäre der einfachste Ausweg aus seiner gegenwärtigen, mißlichen Lage gewesen. Aber kaum daß Gordon der Gedanke gekommen war, wußte er, daß er hier viel zu tief verwurzelt war, hier am Ort seiner Kindheit. Außerdem konnte Flucht letztendlich keine Lösung sein.
      Er kauerte nieder und goß etwas Wasser in die Schale, die er stets für Sam dabeihatte. »Durst, Kumpel?« Der Hund hob den Kopf und rappelte sich mit einem eher pflichtschuldigen als freudigen Ausdruck hoch. Nach ein paar Schlucken beendete er die Gehorsamsübung, drehte sich zweimal auf dem kahlen Fleck um die eigene Achse, den er als Schlafstatt gewählt hatte, ließ sich nieder und legte die Schnauze auf die Vorderläufe. Sams Bewegungen waren in diesen Tagen merklich langsamer geworden. Aber die Hitze machte alle lethargisch. Trotzdem hatte sich Gordon entschlossen, den Hund nicht mehr mit in den Tunnel zu nehmen. Die bis in die Knochen kriechende Feuchtigkeit war auch für die Gesundheit eines Hundes sicher nicht zuträglich.
      Allerdings hatte er nicht vor, im Tunnel zu spielen; schon gar nicht nach dem, was vergangene Nacht geschehen war. Natürlich hatte er gewußt, daß er sie sehen würde ... das war unausweichlich, wenn man so dicht beieinander arbeitete und wohnte. Trotzdem war er auf der Insel geblieben, spielte im Park, im Tunnel, im Schatten der Kräne auf der Glengall Bridge ... und forderte das Schicksal heraus. Selbst an diesem Tag - und mochte der Standort noch so gut sein - hätte es lukrativere Gegenden für einen Straßenmusikanten gegeben. Vielleicht sollte er seine Sachen zusammenpacken und es in South Kensington an der Hampstead High Street oder wieder in Islington versuchen.
      Er kniete nieder, die Hände an der Klarinette, als wolle er sie zerbrechen, als vor seinem geistigen Auge Annabelles Bild erschien, bleich und wütend. Am vergangenen Abend hatte die Wut ihr die typisch distanziert-kühle Maske vom Gesicht gerissen, die sie ihm selbst damals gezeigt hatte, als er ihr den Laufpaß gegeben hatte. Und zum ersten Mal, vermutete er, hatte er gesehen, wie sie wirklich war und was sie wirklich fühlte. Und doch war er nicht willens gewesen, ihr

Weitere Kostenlose Bücher