Deborah Crombie - 05 Das verlorene Gedicht 06 Boeses Erwachen
habe eine Überraschung.«
»Eine Überraschung? Wirklich?« Kits Augen wurden groß; ein Beweis dafür, daß man mit elf Jahren für Überraschungen noch nicht zu alt war. Kit hechtete geschickt auf den Beifahrersitz des Midget. »Was für eine Überraschung?«
»Die von der eßbaren Sorte«, neckte Kincaid, als er den Wagen startete. »Warte und ...« Sein Telefon klingelte, als er den Wagen aus der Parklücke fuhr. Leise fluchend zog er es mit einer Hand aus der Tasche, während er mit der anderen das Auto wieder an den Straßenrand zurücklenkte.
»Kincaid!« meldete er sich unwirsch und hörte am anderen Ende die vertraute Stimme der Telefonistin von Scotland Yard: »Augenblick, ich verbinde.«
»Was gibt’s?« fragte Kit.
Kincaid deckte eine Hand über die Sprechmuschel und antwortete: »Ist beruflich.« Dann fügte er mit einer Zuversicht hinzu, die er nicht empfand: »Dauert nicht lange.«
Chief Superintendent Denis Childs meldete sich am anderen Ende mit der für ihn typischen, stoischen Ruhe. Kincaid hatte mehr als einmal, wenn auch mit schlechtem Gewissen, eine Naturkatastrophe herbeigesehnt, nur um zu testen, ob Childs Herzfrequenz jemals zu einer Beschleunigung fähig war.
»Duncan? Tut mir leid.« Die sonor knarrende Stimme des Superintendent entsprach seiner beeindruckenden Körpergröße und Statur. »Ich weiß, Sie stehen dieses Wochenende nicht auf dem Dienstplan.«
Kincaid stöhnte innerlich. Eine Entschuldigung als Einleitung war ein mieses Zeichen.
»Ist wieder mal einer dieser Chaostage«, fuhr sein Chef fort. »Die anderen Teams sind schon im Einsatz, und gerade ist die Meldung über einen Mordfall reingekommen, der für die Kollegen vor Ort offenbar eine Nummer zu groß ist. Ihr leitender Kriminalinspektor ist übers Wochenende verreist, und der Polizeichef ist der Meinung, der frischgebackene weibliche Inspector, der übers Wochenende Dienst hat, sei überfordert.«
»Mord als Feuertaufe ... ein bißchen happig, was?« stimmte Kincaid zu. »Und wo liegt die Leiche?«
»Isle of Dogs. Mudchute Park.«
»Heiliger Strohsack!« Kincaid haßte Tatorte im Freien. In geschlossenen Räumen konnte man zumindest auf interessante Spuren hoffen.
»Es handelt sich um eine junge Frau«, fuhr Childs fort. »Der Vorbericht klingt nach Tod durch Erwürgen.«
»Ist die Spurensicherung schon unterwegs?« fragte Kincaid und zog eine Grimasse. Ein Sexualmord im Freien. Wurde ja immer schöner. »Haben die Uniformierten den Tatort gesichert?«
»Sind gerade dabei. Wie schnell können Sie dort sein?«
»Geben Sie mir ...« Kincaid warf einen Blick auf seine Uhr und sah dabei aus den Augenwinkeln Kits bleiches, gespanntes Gesicht.
Er hatte den Jungen völlig vergessen.
»Chef...« Er verstummte. Wie konnte er Childs seine mißliche Lage erklären? »In einer knappen Stunde«, sagte er schließlich mit einem weiteren Blick auf Kit. »Ich muß zuerst noch was regeln. Was ist mit Gemma?«
»Der diensthabende Sergeant ruft sie gerade an. Halten Sie mich auf dem laufenden«, fügte Childs hinzu und legte auf.
Kincaid schaltete das Handy aus und wandte sich langsam Kit zu. »Tut mir leid. Ist was dazwischengekommen. Ich muß leider arbeiten.«
»Kannst du nicht...«, begann der Junge, aber Kincaid Schüttelte bereits den Kopf.
»Habe keine Wahl, Kit. Ist wirklich ein Jammer, aber du mußt nach Cambridge zurück.«
»Kann ich nicht«, antwortete Kit mit schriller werdender Stimme. »Die Millers sind übers Wochenende verreist. Schon vergessen?«
Kincaid starrte Kit an. Auch das hatte er vergessen. Es fiel ihm zunehmend schwerer, die Anforderungen seines Jobs mit seinen Verpflichtungen gegenüber Kit unter einen Hut zu bringen. Jetzt saß er in der Patsche.
»Schätze, dann mußt du den Tag allein in meiner Wohnung verbringen«, erklärte er mit einem Lächeln, das die Hiobsbotschaft abmildern sollte.
»Aber das Tennismatch ...« Kit biß sich auf die zitternde Unterlippe.
Kincaid wandte den Blick ab, gab dem Jungen Zeit, sich zu fassen. Dann kam ihm die Idee. »Vielleicht können wir was deichseln. Abwarten und Tee trinken«, sagte er nachdenklich.
Seidengelb, hatte sich das Farbmuster genannt, und Jo Lowell hatte sowohl der Name als auch der Farbton gefallen. Während sie malte, stellte sich Jo vor, wie sich die Farbe wie flüssige Butter über Küchen- und Eßzimmerwände ausbreitete
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