Deborah Crombie - 05 Das verlorene Gedicht 06 Boeses Erwachen
gestellt, nachdem ihm klargeworden ist, daß er sie umgebracht hatte?«
»Ich schätze, weil er auch in diesem Fall der Wahrheit nicht ins Gesicht sehen konnte ... bei Annabelle ebensowenig wie bei Edwina. Aber das hat ihn vernichtet.« Gemma dachte daran, wie er die Leiche der Tochter hinterlassen hatte - so liebevoll ins Gras gebettet und sie dachte an Jo Lowell, die nun weder Mutter, Schwester noch Vater hatte und mit der Last dessen leben mußte, was der Vater getan hatte. Allerdings schien Jo, wie auch Annabelle, die Stärke der Mutter geerbt zu haben. Sie würde darüber hinwegkommen.
»Etwas Gutes hat die ganze Geschichte vielleicht doch gehabt«, bemerkte Janice schüchtern. Als Gemma sie ansah, fuhr sie mit einem zaghaften Lächeln fort: »George Brents Sohn hat mich besucht. Er war ein alter Verehrer von mir ... bevor ich Bill kennengelernt hatte.«
»Und?« fragte Gemma grinsend.
»Wir sind ganz offiziell zum Abendessen verabredet. Heute. Er ist ein netter Kerl«, fügte sie beinahe trotzig hinzu.
»Da bin ich sicher«, sagte Gemma und überraschte Janice, indem sie sie kurz umarmte, bevor sie ihre Sachen zusammensuchte und sich verabschiedete.
Während des Gewitters am vergangenen Freitag war der Blitz in die Oberleitungen der Dockland Light Railway eingeschlagen, doch der Schaden war inzwischen behoben, und Gemma hatte die U-Bahn und dann den Zug nach Limehouse genommen.
Das Gewitter hatte eine Woche klaren Himmel und milde Temperaturen gebracht, und als Gemma nach Dienstschluß in West Ferry in den Zug stieg, freute sie sich auf den Fußweg von der U-Bahnstation Angel nach Hause. Die ganze Woche war von einer merkwürdigen Melancholie überschattet gewesen, die nicht einmal der Gedanke an die morgige Klavierstunde vertreiben konnte, und obwohl sie wußte, daß sie ihren Gefühlen zu sehr nachgab, vermochte sie diese nicht zu verdrängen.
Sie hatte versucht, nicht mehr an Gordon Finch zu denken. Es war von Anfang an eine unmögliche Beziehung gewesen, soviel war ihr klar. Trotzdem konnte sie sich des nagenden Gefühls einer verpaßten Gelegenheit nicht erwehren, und als sie aus der U-Bahnstation Angel trat und sah, daß die Musikalienhandlung gegenüber an der Pentonville Road noch geöffnet hatte, ging sie hinein.
Sie sah sich ein wenig um, blätterte Hefte mit einfachen Musikstücken durch, die sie glaubte, erlernen zu können, und kaufte letztendlich die Noten, die sie unterschwellig im Sinn gehabt hatte: Rodgers und Harts Where and When. Sie nahm sich vor, Wendy gleich morgen zu bitten, es mit ihr zu üben.
Sie steckte die Noten in ihre Tasche, bevor sie den Laden verließ, ging zur Liverpool Street zurück, an Sainsbury’s vorbei, wo sie Gordon zum ersten Mal gesehen hatte, bog in die Richmond Avenue ein, von wo aus es nur noch wenige Querstraßen weiter bis zu Thornhill Gardens war.
Plötzlich blieb sie stehen, horchte und dachte zuerst an eine Sinnestäuschung. Wie von fern hörte sie die Klänge einer Klarinette. Dann sah sie ihn. Er saß auf der Schaukel in einem leeren Schulhof, die Klarinette in der Hand. Er stand auf und kam auf sie zu.
»Ich hab’s einfach versucht«, sagte er.
»Aber wie...«
»Ich habe immer beobachtet, in welche Richtung Sie nach Hause gegangen sind. Ich wollte mehr über Sie wissen.«
»Aber Sie ...« Gemma schüttelte den Kopf. Er schien nie auch nur Notiz von ihr genommen zu haben.
»Sie hatten öfter Ihren Sohn dabei. Wie alt ist er?«
»Drei«, antwortete Gemma verwirrt. »Er heißt Toby. Gordon, wegen Ihres Vaters ... Wie geht es ihm?«
»Er ist nach Surrey gefahren ... Vergangenheitsbewältigung. Aber deshalb wollte ich nicht mit Ihnen sprechen«, fügte er hastig hinzu. »Ich glaube, da ist noch was ungeklärt zwischen uns ... und ...« Er sah weg und strich geistesabwesend mit den Fingern über die Tasten der Klarinette. »Die Vergangenheit hat für meine Begriffe schon genug Schaden angerichtet. Wir sollten nicht zulassen, daß das, was geschehen ist, alles Weitere bestimmt.«
Gemma blickte ihm in die Augen, und was sie darin sah, schnürte ihr die Kehle zu und stürzte sie in einen Abgrund der Gefühle. Gordon Finch war nicht der Mensch, der zugab, einsam zu sein und jemanden zu brauchen, und sie ahnte, welche Überwindung es ihn gekostet hatte hierherzukommen.
Und dann wurde ihr noch etwas klar. Er hatte sie vor eine Wahl gestellt, von der sie nie geglaubt
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