Deborah Crombie - 05 Das verlorene Gedicht 06 Boeses Erwachen
die Hausecke bog, entdeckte sie im Garten eine Frau, die Wäsche aufhängte. Grellweiße Laken flatterten im Wind, und die Frau, Wäscheklammern im Mund, kämpfte mit dem widerspenstigen Stoff.
»Hallo!« rief Gemma ihr laut zu und eilte ihr zu Hilfe. Als sie das Laken mit vereinten Kräften festgeklammert hatten, wandte sich die Frau Gemma lächelnd zu.
»Danke. Sie haben mich gerettet. Eigentlich müßte ich für den Wind am Waschtag dankbar sein, aber das Aufhängen gestaltet sich gelegentlich zum Nahkampf.« Gemma schätzte sie auf Ende Vierzig. Sie war zierlich, hatte ein freundliches, ungeschminktes Gesicht und dunkelblondes Haar, das sie zu einem dicken Zopf geflochten trug. »Ich bin Francesca«, stellte sie sich vor. »Kommen Sie wegen des Atelierraums?«
»Nein, leider nicht. Ich bin Gemma James. Eigentlich wollte ich zu Morgan Ashby.«
Francescas Miene wurde ernst, und sie sagte vorsichtig: »Er ist nicht da. Kann ich Ihnen helfen?«
»Sind Sie seine Frau?« fragte Gemma und sehnte sich nach der eindeutigen Autorität ihres Dienstausweises.
»Richtig.« Francesca wartete ohne den Anflug eines Lächelns in ihren graublauen Augen ab.
»Ich war eine Freundin von Victoria McClellan«, begann Gemma und merkte überrascht, daß das der Wahrheit sehr nahe kam. »Und ich wollte Mr. Ashby über seine Gespräche mit ihr befragen.«
»Morgan hatte keine Gespräche mit Dr. McClellan«, entgegnete Francesca ausdruckslos. »Und er wäre kaum erfreut, Sie zu sehen. Er hat vor ein paar Minuten ihren Ex-Mann mit einem Schrotgewehr vertrieben. Die ganze Geschichte hat ihn entsetzlich aufgeregt. Und das ausgerechnet, als wir gerade gehofft hatten ...«
»Duncan ist hier gewesen?« fragte Gemma. »Es ist ihm doch nichts passiert?«
»Selbstverständlich nicht«, erklärte Francesca erstaunt. »Morgan hat nicht auf ihn geschossen. Er besitzt nicht mal Munition für das Gewehr.« Sie musterte Gemma stirnrunzelnd. »Ich schließe daraus, daß Sie Dr. McClellans Ex-Mann gut kennen.« Sie griff energisch nach dem Wäschekorb. »Kommen Sie lieber rein und erzählen Sie mir, worum es geht.«
»Aber was ist ... wenn Mr. Ashby wiederkommt?« fragte Gemma, der das Schrotgewehr trotz allem unheimlich blieb.
»Wie ich Morgan kenne, marschiert er auf dem Wanderweg in Richtung Madingley, um seine Wut zu kühlen.« Francesca wandte den Blick nach Norden, wo sich weiße Wolken am Horizont auftürmten. »Und ich schätze, so lange, wie das dauert, hält auch das Wetter«, fügte sie mit einem Blick auf die Wäsche hinzu, die sich im Wind blähte, und ging zum Haus voran. Gemma folgte ihr gespielt gelassen.
Francesca führte sie durch die Hintertür in die Küche, wo ihnen das Aroma frischen Kaffees entgegenschlug.
»Hm, das duftet wunderbar«, seufzte Gemma, schloß die Augen und atmete tief ein.
»Ich hatte den Kaffee aufgesetzt, bevor ich mit der Wäsche raus bin.« Sie stellte den Wäschekorb neben die Tür. »Möchten Sie eine Tasse? Ist eine neue Mischung, die ich neulich in Cambridge entdeckt habe.«
»Ja, bitte.« Gemma sah sich bewundernd um, während Francesca zwei Keramikbecher mit Kaffee füllte und sie auf ein Tablett stellte. Es war ein einladender Raum, mit Wänden in der Farbe von Tomatensuppe und einem fröhlichen Durcheinander, das sie an Hazels Küche erinnerte. Es gab sogar die vertrauten Körbe mit Wolle, die große Teile der Arbeitsflächen und des Tischs verstellten. Francescas kurze handgestrickte Jacke war ihr gleich aufgefallen. »Haben Sie die Jacke gestrickt?« fragte sie, während Francesca eine frische Milchflasche öffnete.
»Ich bin Weberin - Textilkünstlerin«, erwiderte Francesca. »Ich stricke nur zur Entspannung. Eine geistlose Arbeit.« Dann fiel ihr offenbar ein, daß sie damit Gemma möglicherweise beleidigt hatte, und sie fügte mit einem ängstlichen Blick auf ihren Gast hinzu: »Das soll nicht heißen, daß die Muster nicht gelegentlich kompliziert sind. Aber wenn man einmal weiß, was man will, geht alles wie von selbst.« Sie stellte Zuckerdose und Milchkännchen aufs Tablett. »Gehen wir ins Wohnzimmer.«
Gemma folgte ihr. Auf der Schwelle blieb sie stehen. Auf den ersten Blick hatte man das Gefühl, auf ein Schlachtfeld zu blicken, auf den Schauplatz eines Persönlichkeitskonflikts. An den blaugrauen Wänden hingen zahllose dunkel gerahmte Schwarz-Weiß-Fotos, die eine seltsame Kulisse für das zentrale
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