Deborah Crombie - 05 Das verlorene Gedicht 06 Boeses Erwachen
hatte. »Vic - Dr. McClellan - hielt es für möglich, daß Lydia später im Leben noch ihr Glück ... oder zumindest eine Art Zufriedenheit gefunden hat.«
»Würde ich gern glauben«, seufzte Francesca. »Ich habe ihr nie etwas Schlechtes gewünscht.«
»Sie sagen, sie sei anfangs freundlich zu Ihnen gewesen. Und später? Als sie von Ihrer Verbindung zu Morgan wußte?«
»Er hat es so lange wie möglich vor ihr geheimgehalten. Um ihretwillen. Nicht um seinetwillen. Aber Cambridge ist ein Dorf, und wenige Monate, nachdem sie sich' getrennt hatten, sind wir ihr eines Tages auf dem Markt begegnet.« Francesca rieb sich die Handflächen an den Knien ihrer Jeans. »Sie war höflich, aber es war nicht zu übersehen, daß es ein schwerer Schlag für sie war. Es war einer der schlimmsten Tage in meinem Leben.«
»Schlimmer als der Tag, an dem Sie erfuhren, daß sie sich die Pulsadern aufgeschnitten hatte?« fragte Gemma, der Kin-caid von Lydias erstem Selbstmordversuch erzählt hatte.
»Ja«, erwiderte Francesca ohne Zögern. Und nachdenklicher: »Es ist komisch, aber dieses Damoklesschwert hatte schon so lange über unseren Köpfen geschwebt, daß die Tat eigentlich wie eine Erleichterung kam. Wir hatten den Eindruck, das Schlimmste sei endlich eingetreten und sei doch nicht so schlimm gewesen, wie wir befürchtet hatten.«
»Und als sie starb? Vor fünf Jahren?«
Francesca starrte durch das Fenster in den Vordergarten. »Ich weiß nicht. Zuerst waren wir geschockt. Dann empfanden wir es als eine Art Befreiung. Ich dachte, Morgan könne geheilt werden, könne endlich von ihr lassen.« Francesca riß den Blick mühsam vom Garten los und richtete ihn auf Gemma. Das kalte Nordlicht hob die Sorgenfältchen in ihrem hübschen Gesicht erbarmungslos hervor. »Dann stellte sich heraus, daß sie ihm das Haus hinterlassen hatte.«
»Warum hat sie das getan?« wollte Gemma wissen. »Finden Sie das nicht seltsam? Sie hatte ihn Jahre nicht gesehen. Die Trennung war für sie sehr bitter gewesen ...«
»Ich glaube, Lydia hatte es als eine Geste der Versöhnung gemeint«, antwortete Francesca nachdenklich. »Um einen Schlußstrich zu ziehen.«
»Und Morgan?«
Francesca sah ihr nur widerwillig in die Augen. »Morgan glaubt, daß sie ihn damit weiter quälen, noch aus dem Grab ihre Macht auf ihn ausüben wollte. Schuldgefühle, seine Liebe zu ihr, das hatte sich alles tief in seinem Inneren über die Jahre aufgestaut. Morgan hat einmal gedacht, er könne Lydia Halt und Sicherheit geben, aber dazu war er nicht stark genug. Das hat er sich nie verziehen.«
»Und jetzt versuchen Sie, Morgan Halt und Sicherheit zu geben?« fragte Gemma prompt.
»Oh!« Francesca wirkte überrascht. »Schätze, es muß so aussehen. Aber die meiste Zeit über ist es eher ein Balanceakt.«
»Und sicher ein ungleicher - wegen Lydia?«
»Nicht wirklich«, entgegnete Francesca mit unerwarteter Bestimmtheit. »Morgan liebt mich. Vermutlich sogar mehr, als er es je für möglich gehalten hat. Er sagt, der Friede und die Sicherheit, die ich ihm gebe, machen sein Leben lebenswert. Und er gibt mir so viel ...«
Hinten im Haus schlug eine Tür. »Frau? Wem gehört der Wagen in der Auffahrt?« rief eine Männerstimme.
Francesca sah Gemma stirnrunzelnd an und schüttelte heftig den Kopf. »Lassen Sie mich machen«, bedeutete sie ihr stumm, als Schritte im Korridor ertönten.
Gemma beugte sich instinktiv vor und zog ihre Handtasche näher zu sich heran.
»Hallo, Liebling.« Francesca lächelte, als ihr Mann das Zimmer betrat. »Das ist Gemma James. Sie kommt wegen des Studios.«
Gemma starrte Morgan Ashby wie ein hypnotisiertes Kaninchen an. Dann riß sie sich zusammen, stammelte eine Begrüßung und schüttelte die Hand, die er ihr entgegenstreckte. Sie konnte sich nicht erinnern, ein Foto von ihm in Vics Unterlagen gesehen zu haben. Nichts hatte sie vorbereitet. Selbst während er sie mißtrauisch und mürrisch musterte, war nicht zu leugnen, daß Morgan Ashby ein bestechend gutaussehender Mann mit einer Ausstrahlung war, die selbst einen Heathcliff in den Schatten stellte. Er war groß, gut gebaut, hatte eine dunkle, dichte Haarmähne, eine gerade Nase und dunkelgraue Augen, die bis in Gemmas Herz zu dringen schienen.
Francesca redete ununterbrochen, und es dauerte eine Weile, bis Gemma den Sinn ihrer Worte erfaßte: »... möchte sich umsehen. Sie weiß nicht, ob es
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