Deborah Crombie - 05 Das verlorene Gedicht 06 Boeses Erwachen
Reise letztendlich führen mußte - er wußte, wenn er sie nicht verließ, würde etwas Schreckliches passieren.«
»Wie meinen Sie das?« fragte Gemma. »Was sollte Schreckliches passieren? Hatte er Angst, sie würde sich umbringen?«
»Ich weiß nicht.« Francesca wandte die Handflächen nach oben. »Ich kann Ihnen nur sagen, daß er um Lydia und um sich Angst hatte. Deshalb ist er für die Außenstehenden zum Sündenbock geworden. Alle haben behauptet, sein Egoismus, die Tatsache, daß er sie verlassen hat, habe ihren Zusammenbruch und den Selbstmordversuch herbeigeführt.«
»Vic hätte diese Sichtweise vielleicht revidieren können«, bemerkte Gemma. »Wenn sie die Chance gehabt hätte, seine Seite der Geschichte zu hören.«
»Das habe ich ihm auch gesagt, aber er wollte nicht hören«, sagte Francesca. »Ich war sogar versucht, selbst zu ihr zu fahren, nachdem sie hiergewesen war. Aber ich wollte nicht riskieren, daß er sich von mir verraten fühlte.«
»Was hätten Sie Vic erzählt?« fragte Gemma leise.
»Daß Lydia von Anfang an eine sehr labile Person gewesen ist. Sie litt an starken Stimmungsschwankungen, war unberechenbar - Lydia hatte Morgan über ein Jahr lang überhaupt nicht beachtet. Haben Sie das gewußt? Sie hat kaum ein Wort mit ihm geredet. Dann, von einem Tag auf den anderen, hat sich der Wind gedreht. Sie hat sich ihm praktisch an den Hals geworfen, hat alle Register gezogen, nur damit er sie heiratet.«
»Sie haben sie damals schon gekannt?«
»Damals noch nicht«, sagte Francesca und sah weg.
»Aber Sie kannten Morgan, und er hat Ihnen von ihr erzählt?« drängte Gemma.
»Nein, damals nicht.« Francesca vermied es noch immer, Gemma anzusehen. »Erst viel später. Ich kam zu ihm, um als seine Assistentin im Atelier zu arbeiten. Ich habe mit den Requisiten und den Kindern geholfen, die Sitzungen geplant, all so was. Künstlerische Fotografie war Morgans Traum, aber die Kinderportraits brachten damals das Geld zum Leben.
Er war so unglücklich, daß er mit mir über diese Dinge geredet hat, weil er niemand sonst hatte. Wir sind Freunde geworden.« Sie zuckte die Schultern. »Vermutlich klingt das sehr trivial.«
»Er fühlte sich unverstanden, und Sie haben ihm zugehört«, murmelte Gemma. »Nur weil es die alte Geschichte ist, ist sie nicht weniger wahr. Und was haben Sie gedacht, als Sie Lydia kennengelernt haben?«
»Es ist schwer, diese ersten Eindrücke von dem zu trennen, was ich vorher über sie gehört hatte und was ich später erfahren habe«, sagte Francesca stirnrunzelnd. »Ich hatte bereits mehrere Monate im Studio gearbeitet, bevor sie dort auftauchte. Zu diesem Zeitpunkt war sie in meiner Phantasie eine kreischende, hysterische Medusa.«
»Und war sie das wirklich?« wollte Gemma wissen.
»Natürlich nicht. Sie war klein, dunkelhaarig, hatte eine rauchige Stimme und war auf eine sehr exotische Art schön. Ansonsten machte sie einen völlig normalen Eindruck auf mich. Und sie war sehr nett zu mir.«
• »Sie erschien Ihnen nicht rastlos und unausgeglichen?«
»Nur unglücklich«, antwortete Francesca mit einem Seufzer. »Je schwieriger es mit Morgan wurde, desto mehr Zeit verbrachte sie mit ihren alten Freunden von der Uni. Und das machte alles nur noch schlimmer. Morgan gab diesen Leuten die Schuld an der ganzen Misere, an Lydias emotionalen Problemen. Er behauptete, sie bestärkten sie in ihrer Vorstellung, mit Rupert Brooke verwandt ... seelenverwandt zu sein. Morgan sah darin ein Unglück.«
»Inwiefern?« wollte Gemma wissen.
»Lydia hat die Sache ein wenig zu weit getrieben. Sie hat sich als Rupert Brookes Reinkarnation gesehen, fühlte sich verpflichtet, das Lebensgefühl von damals wiederzubeleben. Sie wissen schon, das nackte Getanze in den Wäldern um Mitternacht und so weiter, der Kult der immerwährenden Jugend.« Francesca lächelte. »Hätte Rupert Brooke länger gelebt, wäre er dem Kinderkram vermutlich irgendwann auch entwachsen. Aber er hatte nie die Chance.«
»Aber Lydia ist dem schließlich entwachsen?«
»Ich weiß es nicht.« Francesca griff nach ihrem Becher. Der Kaffee mußte längst kalt sein. Sie sank in die Polster zurück. »Vielleicht hielt sie siebenundvierzig für den Beginn des mittleren Lebensabschnitts. So was gibt sich ja mit fortschreitendem Alter.«
Gemma erinnerte sich, wie sicher Vic gewesen war, daß Lydia keinen Selbstmord begangen
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