Debütantinnen - Roman
fand es aufdringlich, nervend. Sie war Autohupen gewöhnt, Verkehrslärm, zu viele Menschen auf zu engem Raum. Die Natur kam ihr vor wie ein schwarzes Loch, in das sie stürzte, schwerelos.
Sie atmete tief durch und versuchte, sich zu entspannen, indem sie die Augen schloss.
Doch schon lief der Film wieder ab. Er fing immer gleich an: mit seiner Berührung ihrer Haut, dem berauschenden Duft seines Rasierwassers, dem Druck seiner Lippen, die zärtlich über ihre nackte Schulter streiften …
»Mach weiter.« Er tunkte den Finger in das Cognacglas und fuhr sich damit über die Lippen. »Trau dich.« Er beugte sich über sie, und sein warmer Atem strich über ihre Wange. »Küss mich.«
Wie oft hatte sie sich geschworen, es nicht zu tun? Seine Anrufe nicht zu beantworten, nicht zu ihm zu gehen, auf keinen Fall etwas zu trinken?
Er war wie eine einfallende Armee, er wollte sie nicht lieben, sondern in Besitz nehmen. Und zu ihrem Entsetzen wollte sie besiegt werden, überwältigt. Es brauchte so viel, überhaupt etwas zu empfinden.
Sie schlug die Augen auf. Diese Träume waren gefährlich.
Sie hatte doch auch andere Erinnerungen, weniger angenehme, sogar furchterregende. Warum verfolgte ausgerechnet diese Erinnerung sie? Glamour, Verführung, die geballte Wucht seines Verlangens und seiner Aufmerksamkeit.
Sie setzte sich auf und erblickte in dem Spiegel über der Frisierkomode auf der anderen Seite des Zimmers ihr Konterfei. Sie hätte die schlanke blonde Frau, die sie anstarrte, beinahe nicht wiedererkannt. Als sie nach New York gegangen war, war sie brünett gewesen, und das Haar war ihr halb über den Rücken gefallen, hatte wie ein Schleier ihr Gesicht verborgen; sie hatte die Schultern nach vorn gezogen, schützend über ihrem Solarplexus gerundet, der sich ständig empfindlich und verletzlich anfühlte.
Sie wollte jemand anders sein. Irgendjemand.
Derek Constantine hatte ihr vorgeschlagen, sich die Haare schneiden und färben zu lassen. »Etwas Zeitloses, Klassisches.«
»Aber das kann ich mir nicht leisten.«
»Du kannst es dir nicht leisten, nicht blond zu sein«, hatte er sie verbessert. »Und«, er seufzte und schürzte ganz leicht die Oberlippe, als er an ihrem knöchellangen Rock hinunterblickte, »wir müssen etwas mit den schwarzen Kleidern machen. Du bist keine italienische Witwe. Dies ist eine Stadt sehr subtiler gesellschaftlicher Klassenunterschiede. Geld hat hier jeder, was zählt, ist Herkunft, Exklusivität. Du bist wie eine Debütantin vor dem Ball. Wenn man dich richtig zurechtmacht und den richtigen Leuten vorstellt, kannst du es womöglich sehr weit bringen.«
Sie verstand ihn nicht, in ihren Ohren klang das alles sehr konservativ. »Du meinst in der Kunst?«
Seine schiefergrauen Augen blickten sie distanziert, unergründlich an. »Im Leben«, antwortete er und legte die Spitzen seiner langen Finger unter dem Kinn aneinander.
Im Leben.
Sie blinzelte ihr Spiegelbild an, zwei Kleidergrößen schlanker, von Kopf bis Fuß in frisches weißes Leinen gehüllt. Sauber, kontrolliert, kultiviert. Im diesigen Nachmittagslicht sah sie golden aus, engelhaft.
Wenn sie ihren finsteren Charakter doch auch nur so leicht abstreifen könnte, wie sie ihre Kleider gewechselt hatte.
Er klang so überzeugt, hatte solch großes Interesse an ihr gezeigt. Die Vorstellung, von diesem erfolgreichen, weltgewandten Mann an der Hand genommen zu werden, war zu verlockend gewesen, um ihr zu widerstehen. Also hatte sie es zugelassen. Hatte ihr halbherziges, rudimentäres Konzept ihrer selbst Stück für Stück aufgegeben und sich seiner klaren Vision und seiner Erfahrung gebeugt.
Doch die Debütantin, die ihm vorschwebte, war durchaus nicht konservativ. Und die Gesellschaft, in die er sie eingeführt hatte, erst recht nicht.
Sie kramte in ihrer Tasche, holte eine Schachtel Zigaretten heraus, zündete sich eine an und trat an das offene Fenster. Sie hatte aufgegeben. Sie hatte vieles aufgegeben, was nicht gepasst hatte. Und in ihr stieg das inzwischen allzu vertraute Gefühl auf, dass sie versuchte, mit einer Teetasse gegen die Flut anzukämpfen.
Ich will nur Frieden, betete sie innerlich und zog an der Zigarette. Ich bin hier, tausende Meilen weit weg von New York, mit einem fremden Mann, tue eine Arbeit, von der ich nichts verstehe … Ich muss einen klaren Kopf bekommen. Allmählich sollte ich doch wissen, was ich mit meinem Leben anfangen will.
Sie schob sich die Haare aus dem Gesicht. Es war unglaublich
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