Decker & Lazarus 10 - Der Schlange List
keiner sage, meine ich keiner. Auch Überlebende dieses Massakers dürfen nicht raus ohne meine Erlaubnis. So hart es klingen mag: Angehörige haben keinen Zutritt. Bleiben Sie höflich und mitfühlend, aber hart. Sagen Sie ihnen, ich komme raus, erkläre ihnen die Lage und gebe Auskunft über den Zustand ihrer … Angehörigen, sobald wir sie identifiziert haben. Auf keinen Fall darf jemand von der Presse rein. Kündigen Sie für später eine Pressekonferenz an. Reporter, die nicht spuren, werden verhaftet. Los geht’s!«
Decker stellte sich mitten in den Raum und versuchte einen Überblick zu gewinnen – verwüstete Tische, umgeworfene Stühle, Einschußlöcher in den Wänden, zersplitterte Scheiben. Die elegante Tapete mit Blut und Speisen bekleckst, das gepflegte Parkett ein Matsch aus verschütteten Flüssigkeiten, Glas- und Porzellanscherben. Sein Blick wanderte über die Bar, die Küchentüren, den Flur zu den Toiletten, die Fenster und den Eingang. Er zückte sein Notizbuch und teilte den Tatort in Planquadrate auf. Jemand rief ihn – eigentlich nur seinen Dienstrang. Er drehte sich um, sah Oliver und winkte ihn herbei.
»Ich glaube, ich muß kotzen«, sagte der Detective.
Decker warf ihm einen Blick zu. Der gut gebräunte Scott Oliver, den nichts erschüttern konnte, war unrasiert und sah käsig aus, in seinen Augen stand das blanke Entsetzen.
»Wir müssen die Toten identifizieren«, sagte Decker und strich sich durchs schweißnasse, flachsblonde Haar. »Durchsuchen wir die Taschen.« Er zeigte Oliver die Skizze. »Ich die linke, du die rechte Hälfte. Wenn die anderen kommen, teilen wir neu auf.«
»Da ist Marge.« Oliver winkte sie mit heftigen Gesten heran. Sie zitterte, wirkte aschfahl und hatte den Kopf zwischen die Schultern gezogen.
»Es ist so furchtbar!« Sie strich sich blonde Strähnen aus dem Gesicht. »Was ist passiert? Ein Amokschütze?«
Oliver zuckte die Schultern. »Wir durchsuchen die Taschen der Toten, um die Identität festzustellen. Wer befragt die Überlebenden? «
»Du übernimmst die Durchsuchung, Oliver«, befahl Decker. »Marge, du bleibst bei Oliver und stellst die Fragen. Bert, du kommst zu mir!«
Bert Martinez drehte sich auf dem Absatz um, kam gerannt. »Heilige Mutter Gottes, ich glaube, mir wird schlecht.«
»Tief durchatmen«, sagte Decker. »Die Toiletten sind da hinten.«
Martinez hielt die Hände vors Gesicht und atmete langsam durch. »Dieser Gestank. Nein, eigentlich ist es … alles. Mein Gott, ich … «
Keiner sprach.
Dann wiederholte Decker: »Scott und Marge übernehmen die rechte Hälfte, du bleibst bei mir auf der linken.«
»Und was soll ich tun?« Martinez zupfte an seinem buschigen schwarzen Schnurrbart.
»Die Verletzten befragen oder die Identität der Toten feststellen. Du hast die Wahl.«
»Ich nehme die Verletzten«, sagte Martinez. »Tom ist schon unterwegs. Was ist mit Farrell Gaynor?«
»Ich hab seine Frau erwischt. Er kommt rüber.«
»Ist das wirklich eine gute Idee, Loo? Der Mann ist herzkrank.«
»Gaynor hat es fast dreißig Jahre bei der Polizei ausgehalten, da wird er auch das überstehen. Außerdem: in der Kleinarbeit ist er Spitze. Und das brauchen wir jetzt. Jede Menge Kleinarbeit.«
»Und der Captain?«
»Hatte’ne Sitzung in Van Nuys, als die Meldung durchkam. Müßte jeden Moment hier sein.«
Decker fing in der linken Ecke an, ein großer runder Zwölfertisch. Zwei Asiaten, um die sich bisher niemand gekümmert hatte, lagen gekrümmt am Boden, bedeckt mit Scherben und Blumen, als wären sie schon fertig fürs Begräbnis.
Decker schaute sich um. Etwa fünfzehn Meter entfernt saßen eng aneinandergedrängt ein paar Japaner in schwarzen Anzügen, daneben zwei Weiße, ein Mann, eine Frau, in Decken gewickelt und verbunden. Er nickte der Frau zu, sie nickte zurück. Ihr Gesicht und ihre Hände waren zerkratzt, wahrscheinlich von umherfliegenden Scherben. Decker überwand sich, zog Handschuhe über, kniete sich vorsichtig hin und fühlte den beiden Männern den Puls.
Nichts.
Er griff dem ersten in die Hosentasche. Ein beleibter Mann, mehrfach ins Gesicht und in die Brust getroffen. Er fand eine Brieftasche und schrieb sorgfältig die Personalien des Toten vom Führerschein ab.
Hidai Takamine aus Encino. Haarfarbe schwarz, Augenfarbe braun, verheiratet, sechsundvierzig Jahre alt.
Decker zuckte. So alt wie er selbst.
Er blickte hoch. Martinez hatte sich nicht von der Stelle gerührt und starrte wie abwesend die Toten
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