Decker & Lazarus 10 - Der Schlange List
war sofort von der Medienmeute umringt. Mit erhobenen Händen hielt er sie auf Abstand, dann ertönte seine kräftige Stimme. »Ich werde mich nicht wiederholen, also soll jeder seine Chance haben. Braucht die Technik noch Zeit?«
»Fünf Minuten bitte!« rief einer.
»Lieber zehn!« ergänzte eine Frau.
»Dann zehn Minuten«, sagte Decker. »Ich verlese eine vorbereitete Mitteilung. Und bitte, Ladies and Gentlemen, wahren Sie Respekt. Ich stehe fünfzehn oder zwanzig Minuten für Ihre Fragen zur Verfügung, dann muß ich zurück an die Arbeit.«
Nach dieser Ankündigung war Decker nicht mehr ansprechbar, zündete sich die nächste Zigarette an und ignorierte die Fragen, die ihm zugerufen wurden. Er rauchte noch zwei weitere Zigaretten, dann war die Zeit um. Nach einem Blick auf die Uhr warf er die fünfte Kippe dieses Abends beiseite und zertrat sie heftiger als nötig mit dem Absatz. Er strich sich das Haar glatt und trat vor die Mikrofone, die einen Halbkreis um ihn bildeten. Blitzlichter und Scheinwerfer blendeten ihn.
»Unsere Hauptsorge gilt denjenigen, die sofort medizinische Versorgung brauchen. Sämtliche Krankenhäuser und Praxen der Umgebung sind benachrichtigt und stellen den Verletzten alles Nötige zur Verfügung. Die Hilfsbereitschaft der Ärzte ist überwältigend. Ihre Unterstützung ist notwendig und hochgeschätzt. Eine ernst gemeinte Bitte an alle Zuschauer vor den Bildschirmen: Bleiben Sie dem Ort der Katastrophe fern, damit Ärzte, Sanitäter, Krankenwagen und Polizei nicht behindert werden.«
Die Fragen begannen.
Was genau ist passiert?
Wie viele Tote, wie viele Verletzte?
Gibt es schon Verdächtige?
Motive?
Wie sieht der Tatort aus?
Decker wandte sich der letzten Fragestellerin zu, Sylvia Lopez vom lokalen Nachrichtensender. Eine der wenigen Sendeanstalten, die die Polizei von Los Angeles in den schlimmen Zeiten fair behandelt hatten.
»Wie es dort aussieht?« Unvermittelt brach ihm der Schweiß aus, und er schauderte. »Schlimmer als ein Albtraum.«
Er wischte sich übers Gesicht und wollte sich der nächsten Frage zuwenden, da sah er Martinez, der ihm über die Köpfe der Reporter hinweg zuwinkte. Einer der vielen Vorzüge, wenn man einsneunzig ist.
»Ich muß weg«, sagte Decker, »entschuldigen Sie mich.«
Er verschwand aus dem Brennpunkt der Kameras, der Lampen, der Mikrofone, duckte sich unter das Absperrband und traf Bert Martinez auf dem Parkplatz. Er legte den Arm um Berts breite Schulter. »Was ist los?«
»Es sind mehr Angehörige gekommen, als wir zuordnen können, Loo.« Bert wischte sich schwarze Strähnen aus dem verschwitzten Gesicht. »Wir schicken die Familien ins Valley Memorial, aber ein paar Verwundete könnten auch im Northridge liegen. Wir versuchen die Namen festzuhalten, aber es geht alles drunter und drüber.«
»Immer schön der Reihe nach.«
»Da fällt mir ein, es könnte sein, daß wir den Täter haben. Einer der Toten, aber es sieht wie Selbstmord aus. Ein Schuß aus kurzer Entfernung in die Schläfe, man sieht die Schmauchspuren.«
»Haben wir eine Waffe?«
»Smith and Wesson, Double Action, neun Millimeter, Automatic.«
»Mein Gott!«
»Ja, ein Mordsding. Die Waffe liegt etwa einsfünfzig von der Leiche entfernt. Die Gerichtsmediziner warten auf dich oder Captain Strapp, bevor sie anfangen. Farrell bewacht die Leiche. Keine Identitätshinweise. Aber ein paar Angestellte des Lokals kennen den Mann. Er heißt Harlan Manz.«
»Ein rachsüchtiger Briefträger?«
»Ein rachsüchtiger Barkeeper.«
4
»Harlan hat hier drei oder vier Monate gearbeitet … «
»Ich glaube, es waren fast sechs Monate … «
»Na gut, vielleicht auch sechs Monate.« Die Kellnerin Marissa warf einen Seitenblick auf Benedict, ihren Kollegen. »Mein Gott, ich kann’s nicht glauben!« Sie saß auf einem Barhocker und zitterte trotz der Decke, in die sie gehüllt war. Das blonde Haar fiel ihr auf die Schulter. »Ich wußte, daß er sauer war, als er ging, aber wer hätte denn gedacht … «
Decker stand an die glatte Eichenholzbar gelehnt zwischen den beiden Kellnern. Zehn Minuten vorher hatte er die leeren Taschen des Toten durchsucht, den verrenkten Körper und den blutüberströmten Kopf betrachtet. Ein sauberer Schuß aus nächster Nähe. Der Revolver lag ein Stück entfernt.
Die Leiche von Harlan Manz erweckte eher Bedauern als Empörung. Der Mann mit den düsteren Zügen, der einmal gut ausgesehen haben mußte, hatte nun ein blutverschmiertes Gesicht, die
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