Decker & Lazarus 10 - Der Schlange List
nichts gesehen«, sagte Courtney. »Ich hab nur die Augen zugekniffen und wie verrückt gebetet – bitte, bitte, laß es aufhören.« Tränen flossen. »Ich möchte meine Mutter anrufen, wenn ich darf.«
»Wann können wir zu unseren Eltern?« fragte Amy.
»Bald … «
»Wie bald?« bohrte Carol. »Darf sie wenigstens ihre Mutter anrufen?«
»Die wartet bestimmt draußen.«
»Dann sagen Sie ihr, daß ihre Tochter wohlauf ist, verdammt noch mal! Und wann kann ich meine Mutter anrufen? Sie muß eine Heidenangst haben. Und ihre Gesundheit ist nicht die beste.«
»Bitte, Carol«, meinte Olaf. »Die Frau versucht nur, ihren Job zu machen.«
»Ich weiß, Olaf. Wir alle versuchen nur, unseren Job zu machen!«
»Du mußt jetzt Geduld haben … «
»Ich hatte jede Menge Geduld«, schoß Carol zurück, »aber jetzt muß endlich was passieren.«
»Ich werde mit dem Chef reden«, sagte Marge. »Bleiben Sie alle, wo Sie sind.«
»Wo sollen wir auch hin, solange diese Nazis die Ausgänge blockieren!«
Marge wahrte die Fassung. »Es tut mir unendlich leid, glauben Sie mir. Ich möchte Ihnen wirklich keinen zusätzlichen Kummerbereiten. Ich bin gleich wieder da.«
Carol blieb wütend, aber stumm.
Marge versuchte zu lächeln, aber Carol verdrehte nur die Augen.
Auf dem Weg zur Tür wurde Marge von Oliver aufgehalten. »Willst du zu Decker?«
»Ja. Wir müssen langsam die Leute rauslassen. Die beschweren sich zu Recht … «
»Ich komme mit«, sagte Oliver.
Beide traten in die kalte Nachtluft hinaus und schirmten die Augen gegen das grelle Scheinwerferlicht ab. Marge zählte fünfzehn Fahrzeuge – Streifenwagen, Presse, Krankenwagen und eine ganze Reihe Leichentransporter. Ihre Augen gewöhnten sich schnell ans Dunkel, und sie sah eine Menschenmenge innerhalb der Absperrung, aber an die Seite gedrängt. Aufgeregte Rufe tönten ihr entgegen. Die Angehörigen.
Die Gaffer drängten sich mit den Presseleuten hinter der gelben Absperrung, mindestens fünfzig Meter entfernt.
Marge sah Decker vorbeilaufen. Er wirkte aschfahl, seine Pranken waren zu Fäusten geballt. Sie rief seinen Namen. Er blieb stehen, drehte sich um und kam auf sie zu.
»Habt ihr die endgültige Liste der Todesopfer?« fragte er.
Oliver zeigte ihm das schicksalsschwere Blatt. »Soll ich es dem Captain geben?«
»Ja bitte, ich habe schon genug schlechte Nachrichten verkündet.«
»Da ist eine Gruppe von Teenagern«, sagte Marge.
»Geh und sag den Eltern Bescheid«, befahl Decker. »Damit es ein paar Freudentränen statt Angsttränen gibt.«
Marge spürte einen Kloß in der Kehle. »Wie geht’s dir? Eine blöde Frage, ich weiß.«
»Beschissen«, sagte Decker. »Aber kein Vergleich zu den Angehörigen dort.« Er atmete tief durch und blickte nach oben, eine dunstige Nacht ohne Sterne, eine vage Mondsichel trieb durch uferloses Grau. »Ich muß mich um die Presse kümmern. Gibt es schon brauchbare Aussagen?«
»Alle sind in Deckung gegangen, als die Schüsse anfingen, und haben geschrien«, sagte Oliver.
»Viel geschrien und viel gebetet«, fügte Marge hinzu.
»Die Schüsse kamen aus allen Richtungen.«
»Aus allen Richtungen?« fragte Decker.
»Ich glaube, das war eher übertrieben«, sagte Marge.
»Die meisten waren voll damit beschäftigt, in Deckung zu gehen.«
»Irgendwelche Äußerungen vom Schützen?«
Mark schüttelte den Kopf. »Die Leute, die ich gesprochen habe, sagen, er hat einfach angefangen zu schießen. Keine Vorwarnung, nichts.«
»Bei mir dasselbe.«
»Raub scheint also als Motiv auszufallen.« Decker rieb sich die Augen und schickte die beiden weg, damit sie ihre guten Nachrichten loswerden konnten. Er versuchte seine Gedanken zu ordnen, das Schreien und Schluchzen der verzweifelten Angehörigen auszublenden. Langsam öffnete er die Fäuste, sah, daß seine Hände zitterten. Er wischte sie an der Hose ab und steckte sie in die Tasche.
Jetzt brauchte er was. Eine Zigarette.
Während er auf die Presseleute zuging, pumpte er sich eine Schachtel und Streichhölzer von einem Polizisten. Er versuchte, beim Anzünden die Hände ruhigzuhalten, sog den heißen Rauch tief in die Lungen. Der Tabak kratzte, aber während das Nikotin durch seinen Körper strömte, beruhigten sich seine Hände, sein Kopf wurde wieder klar.
Er erledigte die Zigarette mit vier tiefen Zügen und zündete gleich die nächste an. Erst als auch die aufgeraucht war, fühlte er sich den Kameras gewachsen. Er tauchte unter dem Absperrband durch und
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