Deckfarbe: Ein Künstlerroman (Krimi im Gmeiner-Verlag) (German Edition)
geohrfeigt und ihr beeindruckendes Temperament hatte sich in übelsten Beschimpfungen überschlagen. Wäre nicht ein Carabiniere hinzugekommen, sie wäre dem Maler glatt an den Hals gesprungen. So hatte sie einen Moment verharrt, und ein Blick tiefer Verachtung hatte die Auseinandersetzung beendet. Maria hatte sich auf dem Absatz umgedreht und Garoche stehen lassen.
Dieser Blick war das Geheimnis. Wie ein Blitz traf den Maler die Erkenntnis, welch ungeheuren Fehler er begangen hatte. Er hatte diesen Blick bei ihrer ersten Begegnung missdeutet. Es war nicht das Feuer der Leidenschaft, es war das Feuer der Verachtung, das er damals gesehen und das ihn fasziniert hatte. Es war auf dem Campo Morosini gewesen, kurz vor ihrer ersten Begegnung. Maria hatte sich nach ihm umgedreht, und sie hatten einander geradewegs in die Augen geblickt. Dabei streifte ihn für den Bruchteil einer Sekunde dieser Blick, der einem anderen galt. Bereits im nächsten Moment sprachen ihre Augen jedoch eine ganz andere Sprache. Die der Leidenschaft. Des Begehrens. Der Liebe. Gustave Garoche hatte sich täuschen lassen.
Er überlegte und versuchte sich der Situation auf dem Campo Morosini zu erinnern. Kurz zuvor lief ein Bursche vorüber und hatte den an den Tischen sitzenden Frauen und Mädchen anzügliche Bemerkungen zugeworfen. Auch Maria hatte er bedacht, doch sie hatte gut herauszugeben gewusst. Diese stolze Kampfansage war es wohl, die Gustave für Leidenschaft gehalten hatte. Sein Bildnis Marias in einem Meer von Sonne und Orientblau war also nichts weiter als ein törichter Irrtum gewesen. Nun war alles umsonst. Sinnlos verschwendete Energie. Der Unachtsamkeit seiner Beobachtungsgabe wegen stand ein Bild auf der Staffelei, das ihn bei seiner Rückkehr geradezu auslachen würde. Der Entschluss war schnell gefasst: Er würde einfach nicht zurückkehren. Nicht nach Burano, und nicht in sein Atelier.
Die Nacht verbrachte er in der Dachkammer seines Bekannten Emilio. Der war Etagenkellner im Hotel Leguso und nicht wenig erstaunt über den unangemeldeten Schlafgast. Am nächsten Tag schickte er Emilio nach Geld, seinen Papieren und einigen Kleidungsstücken in seine Wohnung. Die restlichen Sachen und das Malzeug sollten nachgeschickt werden. Dem erstaunten Signore Colleoni erklärte der Maler, ein überraschendes Angebot für einen Studienaufenthalt in Frankreich lasse ihn so Hals über Kopf abreisen. Er wolle sich melden und die neue Adresse mitteilen, sobald er eine Unterkunft gefunden habe.
Drei Wochen später, nach vertanen Tagen in Oberitalien und ein paar Ausflügen nach Österreich, wo er vergeblich eine neue Galerie gesucht hatte, saß Garoche auf der Bettkante einer kleinen Pension in einem Dorf namens Schindeln an der schweizerisch-deutschen Grenze bei Säckingen. Er betrachtete sein Sparbuch, das er bei seiner Bank in Eupen besaß. Es war nicht mehr viel übrig von den letzten Bildverkäufen, und die Aussicht auf künftige Einnahmen war zudem recht mager. Eine Nachricht aus Venedig von Signore Colleoni, dass von den vier Bildern, die noch in seiner Galerie hingen, keines verkauft worden sei, ließ die Perspektive für die nächsten Monate nicht gerade rosiger erscheinen. Außerdem verzichtete der Kunsthändler in Anbetracht der mangelnden Nachfrage auf weitere Gemälde des Künstlers. Ein PS versicherte dem Maler seiner Wertschätzung und der Tatsache, dass der schleppende Verkauf nicht an seinen Werken liege, vielmehr seien die Interessenten generell zurückhaltend und die Zeiten schlecht.
Zeitgleich mit der unerfreulichen Mitteilung des Signore lag ein Brief aus Berlin im Postfach seiner Pension. Sein Freund, sein vielleicht einziger Freund, Eduard Defries hatte ihn nach Berlin eingeladen. Dort wäre aus Anlass der Olympischen Spiele gerade viel Betrieb und außerdem hätten sie sich fast drei Jahre nicht mehr gesehen. Eduard freue sich. Auf ihn. Auch Garoche freute sich, Eduard wiederzusehen, und beschloss, sich umgehend in Bern ein Visum für Deutschland zu besorgen. Als Grund gab er den Besuch der Olympischen Spiele an und als Adresse die Anschrift seines Berliner Freundes. Beim Erteilen des Visums gab es keine Schwierigkeiten.
Kapitel 2
Am Morgen des 1. Juni 1936 überquerte Garoche gegen sieben Uhr den Rhein bei Säckingen. Die Zugfahrt von seiner Seite, der Schweizer Grenze, nach Deutschland hätte einen enormen Umweg bedeutet. Deshalb machte er sich zu Fuß auf den Weg, um vom deutschen Bahnhof in Säckingen die
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