Deckfarbe: Ein Künstlerroman (Krimi im Gmeiner-Verlag) (German Edition)
deutscher Kunst in Paris, die er vor einem Jahr besucht hatte. In der deutschen Botschaft hatten Maler wie Heinrich Knirr und Adolf Wissel Malerei und Plastiken ausgestellt. Gefallen hatte ihm nicht, was dort gezeigt wurde. Er war auch schon sehr gespannt gewesen, wie die Galeristen und Kunsthändler in Berlin auf seine Kunst reagieren würden, auf seinen Stil, der sich an dem anlehnte, was man unlängst als Expressionismus bezeichnete – der Gestaltungselemente deutscher Künstler mit Elementen des französischen Surrealismus kombinierte. Auch auf Begegnungen mit anderen Künstlern war er gespannt. Hoffentlich tranken sie nicht so viel wie sein Kollege Augustino.
Die Bedienung brachte der Blonden den bestellten Kaffee und entfernte sich, um bei einigen Einheimischen für Mäßigung zu sorgen, die am frühen Morgen lärmten, weil sie die Nacht bei einer Hochzeit durchgefeiert hatten und hier ihren letzten Bierdurst stillten.
Als Garoche seinen Blick von den Bauernburschen zurück auf die Frau lenkte, bemerkte er, dass sie weinte. Sie trocknete ihre Augen mit einem Taschentuch, darauf bedacht keine größere Aufmerksamkeit zu erregen.
»Darf ich mich zu Ihnen setzen?«, fragte der Maler mit einer leichten Verbeugung und zog sich, nach einem kurzen, stummen Nicken, einen Stuhl heran. »Geht es Ihnen nicht gut, kann ich etwas für Sie tun?«
»Haben Sie zufälligerweise ein Visum für mich? Für die Schweiz?«, brachte sie mit einem leicht ironischen Lächeln heraus.
Garoche suchte zum Schein in seinen Taschen und sagte dann bedauernd: »Leider nein!«
Die Frau lachte über den Scherz und der Maler konnte schneeweiße Zähne sehen, die zwischen rot geschminkten Lippen zum Vorschein kamen. Es war das Rot der Fingernägel und der Fahne. Sie reichte ihm die Hand. »Ich heiße Leville.«
Garoche stellte sich vor und erzählte in knappen Sätzen von seinem Aufbruch und seiner Reise bis hierher nach Säckingen.
»Mein Visum für die Schweiz ist abgelaufen«, begann sie sich daraufhin ihm anzuvertrauen, »und ich habe gedacht, hier, an so einer kleinen Grenzstation, achten die Zöllner nicht so darauf. Aber ich habe die deutsche Gründlichkeit nicht einkalkuliert. Besonders gegenüber Deutschen. Jetzt heißt es erst einmal: Zurück nach Berlin! Vielleicht bekomme ich ein Visum für Frankreich.«
»Ihrem Dialekt nach hätte ich vermutet, Sie kämen aus Österreich. Dem Namen nach tippe ich auf Frankreich!«
»Das ist nur Theater«, gab sie lapidar zurück, »es klingt einfach interessanter als Berlinerisch. Und die Regisseure bevorzugen interessante Persönlichkeiten.« Auf ihren Namen ging sie nicht weiter ein.
»Sie sind Schauspielerin?«
»Unter anderem, ja.« Nach einer kurzen Pause, um die Bemerkung ›unter anderem‹ besser wirken zu lassen, erklärte sie: »Modell habe ich auch gestanden. Für Maler und Fotografen.« Und nach einer weiteren Kunstpause fragte sie direkt: »Möchten Sie einmal meine Mappe sehen?« Sie fasste neben sich in die Reisetasche und zog eine flache Mappe heraus, um sie vor sich auf den Tisch zulegen. Zum Frühstück bereitgestellte Tassen, Teller und Besteck wurden schnell beiseitegeschoben. Garoche rückte mit seinem Gartenstuhl ein wenig näher an die Frau heran und konnte nun den Duft ihres Parfüms wahrnehmen.
»Hier!« Sie blätterte die ersten Seiten um, die sorgfältig beklebt und mit einer Folie gegen Beschädigungen geschützt waren. »Das sind Fotografien von Else Neuländer, ihr Künstlername ist Yva. Derzeit wohl die meistbeschäftigte Modefotografin Berlins. Und nicht nur dort. Sehen Sie dies hier«, sie blätterte in ihrem Album, schlug eine Seite auf und lehnte sich demonstrativ zurück. Als sei es ein Gedicht, deklamierte sie leicht pathetisch die Bildunterschrift: »›Salon der Akt-Photographie. La beauté de la femme, Paris 1933!‹«
Bevor sie weiterblätterte, nahm sie einen Schluck Kaffee. »Igitt, kalter Kaffee, es gibt nichts Ekelhafteres … Fräulein!« Sie bestellte neu und fuhr bei der nächsten Seite ein wenig zusammen.
Garoche erkannte sofort, dass es sich um eine Zeichnung Egon Schieles handelte. Ein Akt. Ein Ausruf der Bewunderung entfuhr ihm.
»Sie kennen den Maler?«, fragte Fräulein Leville, und auf die Erwiderung, dass Garoche, selbst Maler, ihm zwar nicht in Person begegnet sei, aber sein Werk schätze wie kaum ein anderes, erläuterte sie: »Das war 1917, ein Jahr bevor er starb.« Dabei betrachtete sie wehmütig die fotografisch
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