Deer Lake 01 - Sünden der Nacht
bauen?«
»Wird wohl so sein«, gab sie zu und setzte ihre Ohrenschützer auf.
»Aber die meisten von uns haben kein inneres Ich, das Kinder belästigt.« Sie klopfte auf die Visitenkarte, die sie auf den Tresen gelegt hatte. »Wenn Ihnen noch irgend etwas Bemerkenswertes einfällt, bitte rufen Sie mich an.«
»Klar, geht in Ordnung.«
»Oh, und Todd?« Sie sah ihn an und warf das Ende ihres Schals über ihre Schulter. »Rauchen Sie kein Dope bei der Arbeit. Man weiß nie, wann ein Cop hereinkommt.«
Megan eilte von der ›Leseratte‹ nach nebenan in ein kleines, türkises Holzhaus, das man in ein Café namens Bohnenstroh umgebaut hatte. Die winzige Veranda stand voller schneeverkrusteter Fahrräder, die offensichtlich den Winter über hier abgestellt waren. Megan betrat das Lokal, setzte sich an einen winzigen, weißgedeckten Tisch in der Nähe des Eingangsfensters; sie bestellte Milchkaffee und Schokokekse bei einem Mädchen im Romantik-Look. Die wenigen anderen Kunden saßen hinten an einem alten Holztresen in dem Raum, der früher sicher das Eßzimmer gewesen war, lasen Zeitung oder plauderten leise. Ein alternativer Rocksender tönte aus dem Radio in der Ecke und füllte die Leere mit Shawn Colvins sparsamem, nostalgischem Text von ›Steady On‹.
Die Wände waren kalkweiß gestrichen und mit Schwarzweiß-Fotos in schlichten schwarzen Rahmen geschmückt. An den Fenstern gab es keine Vorhänge, so daß das kalte, grelle Sonnenlicht einen ungehindert blenden konnte. Megan ließ ihre Sonnenbrille auf, um Augenkonkakt zu vermeiden und das Licht zu dämpfen. Sie nippte ihren Milchkaffee und knabberte gedankenverloren an ihren Keksen, während sie ihr Notizbuch anstarrte.
Sie mußte einen Faden finden, der die losen Informationsfetzen miteinander verband, aber scheinbar gab es keinen, außer Theorien. Olie hatte allein operiert oder Olie hatte einen Komplizen. Wen? Er hatte keine Freunde. Olie hatte Computer mit Dateien, die keiner knacken konnte. Aber bei ihm stand ein Nadeldrucker, und die Notiz, die man in Joshs Tasche gefunden hatte, stammte von einem Laserdrucker. Olie hatte Fotos von nackten Buben, aber sie waren mehrere Jahre alt, aus seinem Leben an einem anderen Ort.
Von jemandem, der so viel wußte, wußte sie sehr wenig.
Unwissenheit ist nicht Unschuld, sondern SÜNDE ich hatt ein bißchen Kummer, geboren aus ein bißchen SÜNDE Blinde, nackte Ignoranz … blinde nackte Ignoranz …
Kopfspielchen. Mitch hatte gemeint, Olie wäre nicht der Typ für Kopfspielchen. Er hatte in seinem eigenen Blut gelegen, als der Anruf in Mitchs Haus eintraf.
Blinde, nackte Ignoranz
Das Zitat stand im Bartlett; es stammte aus Tennysons Idylls of
the King: Blinde, nackte Ignoranz, verurteilt schreiend ohne Scham.
Wollte ihnen jemand auf diese Weise sagen, daß sie den falschen Mann hatten? Oder war es Olies Partner, der nicht ahnte, daß im selben Augenblick seines Telefonterrors sein Kumpane sich die Pulsadern mit Scherben seines Porzellanauges aufschnitt?
Die Theorien wirbelten durch ihren Kopf und ließen ihn schmerzen. Und auf einer anderen Ebene beutelten sie die Ängste davor, was mit ihrer Karriere passieren würde, wenn jemand ihr Techtelmechtel mit Mitch an die große Glocke hängte. Bestenfalls würde sie ihr Gesicht bei den Männern verlieren, mit denen sie arbeitete. Der schlimmste Fall rangierte zwischen dem Verlust ihres Außenpostens und einem schmählichen Ende als Wachmann, irgendwo in einem Einkaufszentrum. Nein, das schlimmste wäre, diesen Fall nicht abschließen zu können, entschied sie, als sie ihre Kopie des Fotos von Josh betrachtete.
Er lächelte sie an, so voller Leben und Begeisterung und großäugiger Unschuld. Sie hatte nur für eine Sekunde ihre Schilde heruntergelassen und sich gefragt, wie es ihm wohl ging, was er dachte, in welcher Panik er sein mußte … vorausgesetzt, daß er noch am Leben war. Sie mußte daran glauben. Dieser Glaube hielt sie alle in Gang.
Und bei diesen Überlegungen war sie sich schmerzlich jeder verstreichenden Sekunde bewußt.
»Wir tun unser Bestes, Josh«, flüsterte sie. »Halte durch, kleiner Kämpfer.«
Sie steckte das Foto zurück in ihre Mappe und zwang sich, sich wieder auf ihre Notizen zu konzentrieren. Olie – Computer. Olie – Gasthörer – Harris College. Lehrer?
Christopher Priest war Leiter der Fakultät. Vielleicht hatte er eine Ahnung, was Olie in seinen Geräten versteckt hatte. Womöglich wüßte er, wie man an die Dateien
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