Deer Lake 01 - Sünden der Nacht
verliebt«, murmelte er. »Ein Irrer hat ihr Kind gestohlen.«
Er schaute durch die Windschutzscheibe gen Himmel. Das Firmament war schwarz und silbern vom Licht eines gebrochenen Mondes, ein unendlich fernes Sternenmeer. In ihm gähnte uferlose Verlassenheit. »Jemand da oben erledigt seine Arbeit nicht.«
18 Uhr 24, -33 Grad, Windabkühlungsfaktor: -46 Grad
Pauls Lunge schmerzte von der Kälte. Seine Beine bebten vom Stapfen durch den tiefen Schnee, und seine Zehen knackten, als hätte sie jemand mit dem Hammer bearbeitet. Das einzig Warme an ihm war die glühende Kohle des Zorns in seiner Brust. Er stieg über einen gefallenen Ast und lehnte sich an eine Zeder am Rand des Waldes, der sich hinter den Häusern von Lakeside erstreckte. Im Osten und Norden lag der Quarry Hills Park, bewaldet und hübsch, mit gepflegten Langlaufloipen. Eine seiner verdienten Belohnungen: Wohnen mit dem See vor der Haustür und dem Wald im Rücken. Einer der greifbaren Beweise, daß er etwas aus sich gemacht hatte.
Und Mitch und Megan O’Malley wollten ihn wie einen Kriminellen behandeln.
Wie konnten sie ihn verdächtigen, wo er sich doch mit aller Kraft in die Bemühungen, Josh zu finden, gestürzt hatte? Er hatte sich den
Suchtrupps angeschlossen, Aufrufe im Fernsehen getätigt. Was hätte er denn noch tun sollen?
Das war alles die Schuld dieses kleinen Luders vom BCA. Sie nämlich hatte sich auf diesen verdammten alten Van versteift. Einzig und allein sie versuchte ständig seine Erklärung, warum er an diesem Abend seinen Anrufbeantworter nicht überprüft und Hannah angerufen hatte, anzuzweifeln. Und beide bemitleideten Hannah! Die arme Hannah, die selbstlos allen half. Arme Hannah, Mutter eines verlorenen Sohnes.
Das Brennen seiner Finger brachte Paul wieder zurück in das Hier und Jetzt. Er war durch die Wälder gestapft, weil auf der Straße vor seinem Haus unzählige Autos und Vans der Reporter parkten. Zu sagen gäbe es eine Menge, aber eben jetzt noch nicht. Jetzt hatte er andere Bedürfnisse: das Bedürfnis, von einer richtigen Frau gehalten zu werden, von jemanden, der ihn verstand, und alles tun würde, um ihn abzulenken.
Nachdem er den hinteren Garten des Hauses der Wrights durchquert hatte, betrat er es durch die Garage. Garretts Saab war nicht da. Karens Honda stand alleine da, wie an den meisten Abenden. Garrett Wright war mit seiner Arbeit verheiratet, nicht mit seiner Frau. Zuhause war der Platz, wo er sich duschte und umzog. Karens Platz in seinem Leben besaß hauptsächlich dekorative Funktionen – jemand, den man zum Fakultätsdinner mitnahm. Jedes andere Interesse, das er früher für sie als Frau gezeigt hatte, war erloschen. Laut Karen hatten sie nur selten Sex und wenn, dann übte Garrett seine Pflicht aus, mehr nicht.
Sie hatten keine Kinder. Karen konnte nicht normal empfangen, und Garrett war nicht bereit, sich dem endlosen Marathon von Tests und Prozeduren auszusetzen, den ein Retortenbaby verlangte. Kinder zu haben, bedeutete ihm nichts. Karen sprach von Adoption, aber auch dieses Unterfangen war beängstigend, und sie wußte nicht, ob sie die Kraft und Ausdauer hätte, es alleine in Angriff zu nehmen. So lebten sie einfach nebeneinander her, in der leeren Hülle einer Ehe, mit der Garrett scheinbar vollkommen zufrieden war und an die sich Karen klammerte, weil sie nicht den Mut hatte auszubrechen.
Für Paul war Garrett nur ein abstrakter Begriff, ein fast unbekannter Nachbar, der in einem anderen Universum lebte. Er war eine nebulöse Gestalt, die sich in Psychologietexten und Recherchen im Harris College vergrub und sein bißchen Freizeit einem Haufen jugendlicher
Krimineller widmete, die sich die Sci-fi-Cowboys nannten. Er und Garrett Wright existierten auf zwei verschiedenen Ebenen, die sich nur an einem Punkt überschnitten – Karen.
Mit dem Ersatzschlüssel, der immer unter der alten Kaffeedose voller Nägel auf der Werkbank lag, sperrte er den Wäscheraum auf, zog seine schweren Stiefel aus und bürstete sich den Schnee von seiner Jogging-Hose. »Garrett?«
Karen öffnete die Tür zur Küche, ihre dunklen Augen wurden ganz groß, als sie ihn erblickte. Sie stand strumpfsockig da, in einer Hand ein grünkariertes Geschirrtuch, mit hautengen lila Leggins. Ein ausgebeulter elfenbeinweißer Pullover mit V-Ausschnitt schlabberte ihr um die Knie. Ihr aschblondes Haar fiel seidenweich herab, umspielte ihre Stirn und die Rehaugen. Sie war klein und weich und feminin, voller Trost und
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