Deer Lake 01 - Sünden der Nacht
Paul sauer sein könnten. Ein unzufriedener Patient, ein verärgerter Klient, so jemand?«
»Sie haben bereits jeden vernommen, den wir kennen«, sagte Hannah. »Und mir fällt beim besten Willen kein Patient ein, der Grund haben könnte, so etwas Entsetzliches zu tun. Die meisten Fälle, die wir in einem so kleinen Krankenhaus wie dem unseren kriegen, sind entweder leicht zu behandeln oder gleich tödlich. Die meisten kritischen Fälle – Unfallopfer und so weiter – werden direkt in ein Großklinikum geflogen. Patienten mit ernsthaften Erkrankungen überweist man ebenfalls in größere Krankenhäuser.«
»Aber Sie haben doch auch Verluste zu beklagen.«
»Ein paar.« Ihr Mund hing herab. »Ich erinnere mich, damals als ich noch in den Twin Cities arbeitete, haben wir kleine Landkrankenhäuser wie das in Deer Lake ›Etikett-drauf-und-ab-in-den-Sack-Kaschemmen‹ genannt. Wir tun unser Bestes, aber wir haben weder die Ausrüstung noch das Personal wie die großen Zentren. Die Menschen hier verstehen das.«
»Vielleicht.« Megan nahm sich vor, ins Gemeindekrankenhaus von Deer Lake zu fahren, um dem Personal der Notaufnahme selbst auf den Zahn zu fühlen.
»Was Pauls Klienten angeht: Da sind jedes Jahr ein paar, die Zeter und
Mordio schreien, weil sie soviel Steuern zahlen müssen, aber das ist ja wohl kaum seine Schuld.«
»Keine katastrophalen Steuerprüfungen, zum Beispiel, Leute, die ins Gefängnis müssen?«
»Nein.« Hannah stand wieder auf, sie war so nervös, daß sie nie länger als ein paar Minuten stillsitzen konnte, gleichgültig, wie müde sie war. »Ich werde Tee kochen. Möchten Sie auch einen? Es ist so kalt …«
Und Josh irrte irgendwo umher, ohne seinen Anorak.
Draußen vor dem Panoramafenster dunkelte es, kalt und schwarz wie in einer Gruft.
»Glauben Sie, er ist am Leben?« flüsterte sie und starrte hinaus in die Nacht, in die Josh vor acht Tagen verschwunden war.
Megan stand auf und stellte sich neben sie. Vor kaum mehr als einer Woche hätte jeder in der Stadt geschworen, Hannah besäße alles – eine Karriere, Familie, ein Haus am See. Die halbe Stadt hatte sie als Inbegriff moderner Fraulichkeit betrachtet. Jetzt war sei nur ein Häuflein Verzweiflung, zerschmettert und verwundet, die sich an einen Hoffnungsfaden, dünn wie ein Haar, klammerte.
»Er ist am Leben, solange wir nichts anderes hören«, sprach Megan ermutigend. »Daran glaube ich, und das müssen Sie auch!«
Pauls Bürotür schwang auf. Er stürmte heraus und verließ das Haus durch den Ausgang zur Garage. Mitch kam aus dem Büro, er sah grimmig und völlig erschöpft aus.
»Ich weiß nicht, wie ich an ihn rankommen soll«, ratlos trat er ins Wohnzimmer.
»Ich auch nicht«, gestand Hannah. »Sollten wir eine Selbsthilfegruppe gründen?«
Mitch rang sich ein Lächeln zu diesem kläglichen Scherz ab. Er nahm ihre Hände in die seinen und drückte sie. Ihre Finger waren eiskalt.
»Tut mir leid, Hannah. Das alles übersteigt mein Fassungsvermögen. Ich wünschte, wir kämen schneller voran.«
»Ihr tut doch alles, was in eurer Macht steht. Es ist nicht eure Schuld.«
»Und deine auch nicht!« Er zog sie tröstend in seine Arme. »Halt durch, Liebes.«
Hannah brachte sie zur Tür und entließ sie in die eisige Nacht. Auf dem Weg zurück durchs Wohnzimmer blieb sie kurz stehen und lauschte der Stille. Ihr ›Aufpasser‹, wie sie den Agent, der ihrem Haus
zugeteilt war, nannte, war bei Mitchs und Megans Erscheinen zum Essen gegangen und würde erst später zurückkommen. Sie hatte sich eine Pause von der Schichtwache der Nachbarn erbeten und bekommen, ebenso wie vom langen Arm der Organisation für vermißte Kinder. Das Haus war still, ruhig, die Spannung verflogen.
Sie fragte sich, wo Paul steckte, wieviel Zeit sie wohl hätte, bis er zurückkam und die Feindseligkeiten ihre Fortsetzung fänden. Wie lange würde es noch dauern, bis der Bruch zwischen ihnen geheilt wäre? Eine Woche, einen Monat, ein Jahr? Würden sie Josh wiederhaben, bevor das passierte? Wollte sie überhaupt eine Versöhnung? Vor ihrem geistigen Auge sah sie einen Anorak im Schilf von Ryan’s Bay liegen.
Als die Angst und die Furcht und die Schuldgefühle wieder ihr sinnloses Kreiseln in ihr aufnahmen, stieg sie die Treppe hoch und tappte den Korridor hinunter zu Lilys Zimmer. Lily war ganz von allein Trost und Liebe, bedingungslos, ohne zu werten, ohne Fragen zu stellen.
Der Klang einer sanften Stimme im Zimmer ließ Hannah abrupt
Weitere Kostenlose Bücher