Deer Lake 01 - Sünden der Nacht
würde es nur wieder eine Berührung sein, nur ein Kuß, nur eine Nacht, nur Sex.
»Trotzdem danke«, sie knickste. »Ich glaube, ich werde einfach nach Hause gehen und das Bewußtsein verlieren.«
Aber sie blieb stehen. Voller Entbehrung.
»Megan …«
Er sagte ihren Namen leise, mit einer ruhigen, intimen Stimme, die die Sehnsucht in ihr weckte. Sein bernsteinfarbener Blick fing sie ein und hielt sie fest, als er sich von seinem Stuhl erhob. Dann flog sie in seine Arme.
Fehler. Schwäche. Die Worte schmerzten, aber ihre Lippen öffneten sich und begegneten seinen. Ihre Wimpern senkten sich flatternd, und Wärme umfing sie, umfing alle beide. Es war ein langer Kuß und doch ungeduldig, zärtlich und drängend, aggressiv und fragend und tröstlich. Sie wollte ihn berühren, sein Verlangen nach ihr spüren, sich vorstellen, daß es nicht nur ein körperliches Bedürfnis war. Aber es war nicht mehr.
»Was machst du da?« fragte sie, als sie sich von ihm löste. Die Frage klang aber längst nicht so spitz, wie sie beabsichtigt hatte.
»Deine Meinung ändern«, sagte Mitch. »Wenn ich Glück habe.« Megan entwand sich seinen Armen. Sie legte die Hände zusammen und dann an den Mund wie im Gebet. Die Konzentration auf den granitgrauen Teppich gelang nicht ganz, und ihr Blick wanderte zurück zu Mitch, der jetzt mit den Fäusten in den Hüften dastand, das Gewicht auf ein Bein verlagert – kein Versuch, seine Erregung zu kaschieren, sondern eher eine Herausforderung. Eine Aura von gefährlicher Männlichkeit umgab ihn – rauh, etwas mitgenommen, ungeduldig, groß und maskulin -, als hätte der Tag die Politur von Manieren und Zivilisation abgewetzt.
»Nein«, flüsterte sie, obwohl alles in ihr dagegen protestierte. »Mein Job hängt an einem seidenen Faden.«
»Und die Leute mit der Axt werden ihn kappen, egal, was wir tun.«
»Oh, danke für das Vertrauensvotum«, sagte Megans Stimme schneidend vor Sarkasmus und Schmerz.
»Es hat nichts damit zu tun, was ich will oder denke, oder mit dem, was du willst oder denkst«, sagte er. »Sie werden machen, was immer das Förderlichste für sie ist. Das weißt du genauso wie ich.«
»Und du meinst, wenn sie mich schon bestrafen, sollte ich mir wenigstens was zuschulden kommen lassen?« Sie klang ätzend.
Er zog die Schultern hoch, als wolle er sagen: »Warum nicht?« Sein Gesicht war hart, ausdruckslos.
»Ich bin da anderer Ansicht«, sagte sie leise. So dumm es auch war, ihn lieben zu wollen, sie war nicht fähig, ihn aus Berechnung oder als Trostpreis zu lieben.
Langsam wandte sie sich ab und ging zur Tür, hielt den Atem an, in einer Hoffnung, die sie nicht aussprechen wollte. Mitch sagte nichts. Sie zwang sich den Kopf zu heben und ihm einen letzten Blick zuzuwerfen, als sie den Türknauf packte. »Ich werde nicht mit dir ins Bett gehen, bloß weil es gerade paßt. Klar, habe ich meine Fehler, aber ein Mangel an Selbstachtung gehört nicht dazu.«
TAG 10 1 Uhr 02, -31 Grad, Windabkühlungsfaktor: -41 Grad
Hannah saß in einem Ohrensessel in einer Ecke ihres Schlafzimmers. Sie war hellwach. Wieder. In den neun vergangenen Nächten seit Joshs Verschwinden hatte sie vergessen, was tiefer und friedlicher
Schlaf bedeutete. Sie hatte sich selbst ein Rezept für Valium ausgestellt, aber hatte es noch nicht abgeholt. Vielleicht wollte sie das Mitleid des Apothekers nicht, oder es war ein Symbol für eine Schwäche, die sie sich nicht zugestand. Möglicherweise lehnte sie die Erleichterung ab, die Schlaf brachte oder glaubte, sie hätte sie nicht verdient. Oder sie hatte Angst, dem Druck und der Verzweiflung zu unterliegen und der Versuchung nachzugeben, mehr als nötig zu schlucken.
Paul hatte sich die Fingerabdrücke nehmen lassen müssen.
Er war schäumend vom Polizeirevier nach Hause gekommen, völlig außer sich vor Wut. Hannah hatte den Live-Bericht in TV 7 gesehen, und war der Reihe nach schockiert, wütend, angewidert und verängstigt gewesen: schockiert, weil sie nicht gewarnt worden war – Paul hatte ihr nichts erzählt; wütend über seine Rücksichtslosigkeit; angewidert von den Möglichkeiten, die sich in ihren Kopf gedrängt hatten; verängstigt durch ihr Mißtrauen.
Sie starrte auf ihr leeres Blatt, während sie vor ihrem geistigen Auge die Szene noch einmal durchspielte. Eine unsichere Hannah stand im Wohnzimmer, die Arme verschränkt, die Zähne zusammengebissen, den Blick grimmig auf Paul gerichtet, der soeben hereinstürmte. Sie konnte den
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