Deer Lake 02 - Engel der Schuld
Augenbraue hoch. Er vermißte einen Namen. »Und Paul?«
Der Priester senkte den Blick. »Paul hat klargestellt, daß er weder von der Kirche noch von mir etwas will.«
»Können Sie ihm das verdenken?«
»Nein, das nicht.«
Seine Offenheit war überraschend, aber an Tom McCoy gab es ohnehin nicht viel, das man normal nennen konnte. Je nachdem, wen man in der Stadt fragte, war McCoy ein herzerfrischender Rebell oder ein Sünder gegen die Traditionen der Kirche. Ihm lag nichts an Konventionen. Seine Pfarreimitglieder liebten ihn entweder, oder sie tolerierten ihn. Seine blauen Augen hinter den Gläsern der goldgeränderten Brille waren ehrlich.
»Ich bin nicht daran interessiert, Opfer auszunutzen, Pater.«
»Sie zeichnen ihre Leiden auf, sezieren ihre Leben, verpacken ihre Geschichte in Unterhaltung und machen einen Haufen Geld. Wie nennen Sie das?«
»Den Lauf der Welt. Dinge geschehen. Menschen wollen etwas darüber wissen. Ihr Wissen ändert das, was geschehen ist, nicht mehr. Nichts kann es mehr ändern. Ich versuche, die Wahrheit zu finden. Gründe, Motive. Ich will wissen, wo gewöhnliche Leute die Kraft finden, mit außergewöhnlichen Tragödien fertig zu werden Ich möchte wissen, was wir anderen von ihnen lernen können.«
»Und einen Haufen Geld verdienen.«
»Und einen Haufen Geld verdienen«, gab er zu »Die Armen mögen vielleicht im Jenseits reich werden Vielen Dank, aber ich möchte lieber jetzt und hier mein Auskommen haben.«
»Hannah ist eine ungewöhnliche Frau«, sagte Pater Tom. Seine Miene wurde etwas sanfter, verräterisch sanft »Sie können jeden fragen. Sie ist stärker, als sie weiß. Gütig. Gut. Ich weiß gar nicht, wie ich ausdrücken soll, was sie für diese Gemeinde bedeutet, als Ärztin, als Vorbild.«
»Es muß schwer gewesen sein mit anzusehen, was sie durchmachen mußte«, sagte Jay und beobachtete ihn genau, um seine ehrliche Reaktion einzufangen. Zorn. Er flammte auf und war gleich wieder weg. Was folgte, waren keine mit priesterlicher Weisheit vorgetragenen banalen Phrasen.
»Es war die Hölle«, sagte McCoy offen. »Ich bin seit mehr als einem Jahrzehnt Priester, Mister Brooks. Ich habe aber immer noch nicht begriffen, warum guten Menschen schlimme Dinge passieren.«
»Gottes Wille?« schlug Jay vor.
»Ich hoffe doch nicht. Welchen Zweck sollte es haben, die Gläubigen und die Unschuldigen zu bestrafen? Ich würde das Sadismus nennen, Sie nicht auch?«
Jay lehnte sich zurück, verschränkte die Arme und sah fragend auf Tom McCoy. »Sind Sie sicher, daß Sie ein Priester sind?«
McCoy lachte bitter und wandte sich ab. Das Wort »nein« dröhnte in der Luft, die ihn umgab »Nach dem, was in den letzten Wochen passiert ist glaube ich nicht, daß irgendeiner von uns sich noch über irgend etwas sicher sein kann.«
Die Antwort traf einen Nerv Die Wahrheit. Die Wahrheit, die niemand hören wollte.
»Aber so etwas müssen Sie doch ständig erleben«, sagte McCoy. »Es ist Ihr Job, von einem Opfer zum nächsten zu gehen. Geht Ihnen das unter die Haut, oder sind Sie immun?«
»Nicht immun, aber vorsichtig. Ich halte Abstand. Lasse nicht zu, daß es persönlich wird. Ich bin da, um Fragen zu stellen, nach Antworten zu suchen, alles zu einem Bild zusammenzusetzen und weiterzuziehen.« Doch noch während er seine Standardantwort herunterrasselte, sah er Ellen vor seinem geistigen Auge. Er konnte sie in seinen Armen spüren, ihre Angst fühlen, ihre Tränen, die sein Hemd durchnäßten. Von wegen Abstand.
»Es geht nicht um mich«, sagte er. Das war auch eine Lüge.
Er hätte seine Reise nach Deer Lake vielleicht als Flucht bezeichnet, aber er konnte sich der Tatsache nicht entziehen, daß er sich in diesen speziellen Fall um seiner selbst willen versenkte, weil er sein eigenes Gefühl von Verlust darin wiederfand. Hier ging es darum, sich selbst zu bestrafen und gleichzeitig zu trösten, was ihn sowohl zum Egoisten als auch zum Opportunisten machte. Warum hatte er nicht einfach ein Flugzeug nach Barbados genommen, nachdem er Christine gesehen hatte? Er könnte jetzt Sonne und Rum tanken, statt sich den Arsch abzufrieren und erwünschte Emotionen aus den tieferen Schichten seiner Seele hervorzuwühlen.
»Ich zeichne nur die Geschichte auf«, sagte er, als ob es dadurch wahr würde.
»Nichts Persönliches«, sagte Pater Tom. Seine Augen waren schmal geworden, bohrten sich durch oberflächliche Entschuldigungen und zur Schau gestellte Fassade. »Haben Sie
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