Deer Lake 02 - Engel der Schuld
erinnerte er sich an die Stimme seines Vaters, wenn er die Zeitung von Billings las, immer drei Tage nach ihrem Erscheinen, weil die Post so lange brauchte, um sie zu der kleinen Ranch in der Nähe von Red Lodge, Montana, zu bringen. Jeden Morgen war Bob McCoy von seiner Arbeit hereingekommen, hatte beim Frühstück die Zeitung gelesen, den Kopf geschüttelt und gesagt: »Die Welt fährt auf einem Schlitten zur Hölle.«
Tom glaubte, die Kufen quietschen zu hören. Aber ein dumpfer Aufprall, der durch die Kirche hallte, brachte ihn zurück in die Realität. Jemand war hinter ihm durch das Hauptportal gekommen, dessen Angeln wieder einmal geölt werden mußten. Er drehte sich in der Bank um und kniff die Augen zusammen, um den Mann erkennen zu können, der aus den dunklen Schatten unter der Empore auf ihn zukam.
»Ich suche Pater Tom McCoy.«
»Ich bin Pater Tom«, sagte er und erhob sich.
»Jay Butler Brooks.«
»Ah, der Schriftsteller, der über Kriminalfälle schreibt«, sagte er und reichte ihm seine Hand.
»Sie sind mit meiner Arbeit vertraut, Pater?«
»Nur vom Hörensagen. Mein Geschmack tendiert mehr zu Romanen. Ich habe im Alltag genug Realität. Was kann ich für Sie tun, Mister Brooks?«
»Ich hätte Sie gern einen Augenblick gesprochen, falls Sie erlauben. Ich habe Sie doch nicht gestört, oder?«
Tom McCoy warf einen ironischen Blick durch die verlassene Kirche, aber das Gefühl, das ihn den Mund verziehen ließ, war wohl ein selbstironisches. Er sah ganz anders aus als jeder andere Priester, den Jay je gekannt oder sich vorgestellt hatte. Er war zu jung, zu attraktiv, wie ein Athlet gebaut und nachlässig gekleidet, mit zerknitterten schwarzen Jeans und einem verwaschenen grünen Sweatshirt der University of Notre Dame. Das Beffchen wollte so gar nicht zu seinen Cowboystiefeln passen. Ein Mann der Widersprüche. Eine verwandte Seele.
»Wir haben heute nicht gerade einen Ansturm auf das Seelenheil«, sagte er.
»Ich kann mir vorstellen, daß die Leute bei diesem Wetter zum Risiko bereit sind«, sagte Jay. »Was sind schon ein, zwei Tage mehr oder weniger im Fegefeuer?«
»Sie kennen das Fegefeuer, Mister Brooks? Sind Sie Katholik?«
»Nein, Sir. Ich wurde als Baptist geboren und bin später zum Zynismus übergetreten, aber ich weiß alles über das Fegefeuer.« Gegen seinen Willen schlich sich wieder Erschöpfung in seine Stimme ein. »Sie haben kein Monopol auf die Hölle oder ihre Vororte.«
Pater Tom neigte zustimmend den Kopf. »Nein, wahrscheinlich nicht. Gehen wir in mein Büro?«
Jay schüttelte den Kopf. Sein Blick überflog das prachtvolle Innere der Kirche, registrierte die Fenster, die Statuen, die Reliefs, die in regelmäßigen Abständen an den Wänden hingen. »Schön. Beeindruckend, was Sie hier haben.«
Der Altar war traditionell, auf einer Leinendraperie standen Messingkandelaber und ein glänzender Kelch, daneben lag ein riesiges altes Buch mit Bändern zwischen den Seiten. Laut einem Zeitungsartikel der vergangenen Woche hatte der wahnsinnige Diakon dem Pater McCoy mit einem der Messingleuchter vom Altar eine Gehirnerschütterung verpaßt. Jay fragte sich, ob der Leuchter jetzt wohl da oben stand oder ob die Polizei ihn als Beweismaterial mitgenommen hatte.
Von dem riesigen Kruzifix, das hinter dem Altar hing, sah streng ein geschnitzter Jesus auf ihn herab, als hätte er Einwände gegen seine Gedanken.
Pater Tom rutschte auf der Bank ein Stück weiter. Jay setzte sich neben ihn. Sein Parka raschelte wie Zeitungspapier. Er hatte den Reißverschluß geöffnet, denn immerhin befand er sich in einem geschlossenen Raum, aber in den zehn Minuten, die er gebraucht hatte, um mit seinem Cherokee über ungeräumte Straßen und durch metertiefe Schneewehen herzufahren, war die Kälte bis tief in seine Knochen gedrungen. Jedenfalls schien es in der Kirche noch weniger warm als im Führerhaus seines Wagens zu sein. Der Thermostat sprang wohl nur für Mitglieder der Pfarrgemeinde an. Es hatte keinen Sinn, die Scheune zu heizen, wenn die Herde aushäusig war.
»Sie sind hier, um ein Buch zu schreiben«, sagte Pater Tom ohne Umschweife.
»Das mißfällt Ihnen.«
»Ein Urteil darüber steht mir nicht zu.«
Jay mußte grinsen. »Also, ich habe noch nie erlebt, daß das jemanden hindert, trotzdem eins zu haben.«
»Hannah und Josh haben genug mitgemacht«, sagte McCoy streng. »Ich möchte nicht, daß sie noch mehr verletzt werden, als es bereits geschehen ist.«
Jay zog eine
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