Defcon One 01 - Angriff auf Amerika
sahen. George T. Gilles hatte es seiner Tochter zunächst übel genommen, dass diese nicht zu den Feierlichkeiten der Amtseinführung nach Washington gekommen war, zumal die für viele Wählerstimmen verantwortliche Klatschpresse dieses Thema ebenfalls aufmerksam verfolgte. Als Tracy aber am Telefon konterte, sie müsse gegebenenfalls einen Umweg über den Mond nehmen, hatte George T. Gilles sofort verstanden. Seine Tochter war in die nächste Shuttle-Mission nachnominiert worden, und das bedeutete die Abarbeitung exakt aufeinander abgestimmter Pflichtprogramme und Termine bei der NASA.
»Und?«, setzte der Präsident die Begrüßung fort. »Wie fühlt man sich als frischgebackene Astronautin?«
»Verdammt gut. Die Verpflichtung in das Space Shuttle Team ist die Krönung meiner bisherigen Laufbahn. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie aufregend das alles ist …«, setzte Tracy zu einem Wortschwall an, den George T. Gilles aber kurzerhand unterbrach.
»Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika geworden zu sein, ist auch nicht gerade unspektakulär. Wenn deine Mutter doch diesen Augenblick hätte miterleben dürfen! Wir beide auf dem Höhepunkt unserer Laufbahn. Am Ziel unserer Träume. Wer hätte das jemals gedacht?«
Tracy schaute mit wachem Blick in die feucht glänzenden Augen des momentan mächtigsten Mannes der Welt. Nur ein Flüstern kam über ihre Lippen. »Das alles liegt jetzt fast zehn Jahre zurück, und wir sollten akzeptieren, dass Gott es so gewollt hat. Ich denke auch noch jeden Tag an Mom, und die Erinnerung an sie gibt mir Kraft und Mut in schweren Stunden, weil sie es war, die uns in harten und stürmischen Zeiten zusammengehalten hat.«
Der Präsident wusste, worauf seine Tochter anspielte. In seinen ersten Jahren als Senator in Kalifornien hatte er ein Verhältnis mit seiner Sekretärin angefangen; weiß der Teufel, warum das damals geschehen musste. Gilles bereute es im Nachhinein zutiefst, da er damit seine Karriere und seine Ehe aufs Spiel gesetzt hatte, also alles was ihm lieb und wichtig war. Aber Eleonore, seine damalige Frau, hatte ihm den Fauxpas verziehen und ihn angespornt, auf seinem Weg an die Spitze mit Geradlinigkeit, Aufrichtigkeit und Entschlossenheit zu schreiten. Dass durch Gilles` Fehltritt das Verhältnis zu seiner Tochter mehr als überstrapaziert worden war, war verständlich. Doch mit dem plötzlichen Krebstod von Eleonore Gilles hatten Vater und Tochter nach und nach näher zueinander gefunden und das Verhältnis mit der Zeit normalisiert. Seit jenen Tagen war George T. Gilles keine erneute langfristige Beziehung zu einer Frau eingegangen. Er war den Ratschlägen seiner verstorbenen Eleonore gefolgt und hatte sich mit aller Kraft auf seine Ämter konzentriert. Jetzt, mit 58 Jahren, stand er an der Spitze der größten Industrienation der Welt. Er wirkte mit seinen 1,90m äußerst sportlich und dynamisch, war im vollen schwarzen Haar leicht ergraut und damit ungemein attraktiv. Darüber hinaus war er charmant und eloquent. Und mit seiner humanistischen Bildung und seinem ausgeprägtem Verständnis für Literatur, Kunst und Musik bewegte er sich sicher in allen Gesellschaftskreisen. Er war ein guter Zuhörer und immer offen für Vorschläge, seien sie im ersten Moment auch noch so absurd. Sein Verhandlungsgeschick, seine Diplomatie und sein Pragmatismus brachten dem promovierten Mediziner in allen politischen Lagern Anerkennung ein. George T. Gilles wollte ein Präsident zum Anfassen sein und fühlte sich in der Tradition John F. Kennedys und Barack Obamas beheimatet.
»Tracy an Erde. Ist da jemand?«, scherzte seine Tochter.
Präsident Gilles erwachte aus seiner Reise in die Vergangenheit und schenkte seiner Tochter ein warmherziges Lächeln. »Du hast bestimmt Hunger. Max, unser neuer Koch, hat uns etwas vorbereitet. Wir essen hier, im Kino. Und dann schauen wir uns gemeinsam etwas an, was ich dir nicht vorenthalten möchte.«
Tracy Gilles stutze. Sollte Sie den Weg hierher angetreten sein, um sich mit ihrem Vater einen Spielfilm anzusehen? Sie fixierte ihn, als dieser ihr den Rücken zuwandte. Irgendetwas schien ihm Sorgen zu bereiten; etwas, das nicht mit dem ungeahnten Druck des Präsidentenamtes zu tun hatte, sondern mit ihrer Person. Es war diese unerklärliche Schwingung zwischen zwei Menschen, die sich sehr nahe standen und die erkannten, wann den anderen etwas emotional bewegte. Auch wenn in der letzten Zeit viel Distanz zwischen ihnen entstanden
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