Defekt
Farbfelder.
Ich möchte nur, dass Sie die Farbe benennen“, spricht Dr. Susan Lane, die
Neuropsychologin, ins Mikrofon. „Nein, Mr. Jenrette, bitte nicken Sie nicht.
Denken Sie daran, dass das Band unter Ihrem Kinn Sie daran erinnern soll, sich
nicht zu bewegen.“
„Zehn-vier“, klingt Basils Stimme durch den
Lautsprecher.
Inzwischen ist es halb neun Uhr abends, und Benton
fühlt sich unwohl. Diese Beklommenheit plagt ihn schon seit Monaten, wobei
seine Sorge weniger der Frage gilt, ob die Basil Jenrettes dieser Welt
plötzlich in den altehrwürdigen Backsteinmauern des McLean Hospital den
Aufstand proben und jeden niedermetzeln könnten, der ihnen in die Nähe kommt.
Er befürchtet eher, dass seine Studie zum Scheitern verurteilt ist und dass er
damit leichtsinnig Fördergelder und jede Menge wertvolle Zeit vergeudet. McLean
ist der medizinischen Fakultät von Harvard angeschlossen, und weder das
Krankenhaus selbst noch die Universität würden Gnade mit Benton haben, falls er
versagt.
„Es ist nicht schlimm, wenn Ihnen ein Fehler unterläuft“,
spricht Dr. Lane ins Mikrofon. „Wir erwarten gar nicht, dass Sie alles richtig
machen.“
„Grün, Rot, Blau, Rot, Blau, Grün“, hallt Basils
Stimme selbstbewusst durch den Raum.
Ein Mitarbeiter hakt die Antworten auf einem
Formblatt ab, während der MRT-Techniker die Bilder auf seinem Monitor
überprüft.
Dr. Lane betätigt wieder den Knopf. „Mr. Jenrette,
Sie machen das ausgezeichnet. Können Sie alles gut sehen?“
„Zehn-vier.“
„Prima. Wenn der schwarze Bildschirm erscheint, sind
Sie bitte ganz still. Sprechen Sie nicht, und betrachten Sie nur den weißen
Punkt auf dem Bildschirm.“
„Zehn-vier.“
Dr. Lane nimmt den Finger vom Knopf und dreht sich
zu Benton um. „Wo hat er denn nur den Polizeijargon her?“
„Er war früher Cop. So hat er es vermutlich
geschafft, die Opfer in seinen Wagen zu locken.“
„Dr. Wesley?“, unterbricht ihn die
Labormitarbeiterin und dreht sich in ihrem Stuhl um. „Es ist für Sie. Detective
Thrush.“
Benton greift nach dem Hörer.
„Was gibt es?“, fragt er Thrush, einen Detective bei
der Mordkommission der Massachusetts State Police.
„Hoffentlich hatten Sie nicht vor, heute früh zu
Bett zu gehen“, erwidert Thrush. „Haben Sie schon gehört, dass heute Morgen
draußen beim Waiden Pond eine Leiche gefunden wurde?“
„Nein, ich war den ganzen Tag hier eingesperrt.“
„Weiß, weiblich, noch nicht identifiziert, Alter
schwer zu schätzen. Vielleicht Ende dreißig, Anfang vierzig. Kopfschuss, die
Patronenhülse wurde ihr in den Hintern geschoben.“
„Ist mir neu.“
„Die Autopsie wurde bereits durchgeführt, aber ich
dachte, Sie wollten sie sich noch einmal ansehen. Das war kein normaler Mord.“
„Ich bin in einer knappen Stunde hier fertig“, sagt
Benton. „Wir treffen uns in der Leichenhalle.“
Im Haus ist es still. Kay Scarpetta geht unruhig von
Zimmer zu Zimmer und schaltet alle Lampen an. Sie lauscht auf das Geräusch
eines Motorrads oder Autos und wartet auf Marino. Er ist zu spät dran und hat
nicht auf ihre Anrufe reagiert.
Unruhig und besorgt überprüft sie, ob die
Alarmanlage auch wirklich eingeschaltet ist. Vor dem Bildschirm am Küchentelefon
bleibt sie stehen, um sich zu vergewissern, dass die Überwachungskameras an
allen Seiten des Hauses funktionieren. Der Bildschirm zeigt ihr dunkles
Grundstück, auf dem sich die Umrisse von Zitronenbäumen, Palmen und
Hibiskusbüschen im Wind wiegen. Der Steg hinter ihrem Swimmingpool und der
Kanal dahinter sind eine schwarze Ebene, gesprenkelt vom Licht der
Straßenlaternen am Deich. Sie rührt die Tomatensauce und die Pilze um, die in
Kupfertöpfen auf dem Herd köcheln. Dann sieht sie nach dem gehenden Teig und
dem frischen Mozzarella, die in abgedeckten Schüsseln neben dem Spülbecken
stehen.
Es ist fast neun. Marino wollte vor zwei Stunden
hier sein. Morgen hat sie mit verschiedenen Fällen und Seminaren alle Hände
voll zu tun, und sie hat kein Verständnis für sein unmögliches Benehmen.
Außerdem fühlt sie sich auf den Arm genommen. Sie hat genug von ihm. In den
letzten drei Stunden hat sie sich ausschließlich mit Johnny Swifts angeblichem
Selbstmord befasst, und jetzt meint Marino offenbar, sich nicht bei ihr blicken
lassen zu müssen. Scarpetta ist erst gekränkt und dann wütend. Es ist leichter,
wütend zu sein.
Verärgert geht sie ins Wohnzimmer; dabei lauscht sie
immer noch auf ein Motorrad oder ein
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