Deichgrab
Nichts deutete darauf hin, dass es sich hier um die Küche eines Pastorats handelte.
Pastor Jensen setzte sich zu ihm an den Tisch.
»Tja, Tom«, sagte er dann, »das war schon eine merkwürdige Beerdigung. Du weißt ja, Hannes war nie ein Mann der Worte und so konnte ich bei seiner Beisetzung auch nicht viel sagen. Nun bin ich schon so lange hier, aber selten habe ich über einen Menschen so wenig sagen können.«
Tom konnte das sehr gut nachvollziehen.
»Warum ist sonst niemand zur Beerdigung gekommen?«
»Ach, du weißt doch wie das ist. Hier im Dorf vergessen die Leute sehr langsam. Das hängt immer noch mit der Geschichte von damals zusammen.«
»Welche Geschichte?«
»Ja sag bloß, du weißt gar nichts von der ganzen Sache? Na ja, kann mir gut vorstellen, dass Hannes dir davon nichts erzählt hat. War ja auch damals bereits lange her. Aber die Auswirkungen hast selbst du noch zu spüren bekommen.«
Tom fragte sich, was der Pastor meinte. Er wartete auf eine Erklärung.
»Ich spreche nicht gerne darüber. War unschön damals. Das ganze Dorf war aufgebracht. Eine Art Hetzjagd haben sie gegen Hannes veranstaltet. Ich habe versucht, ihnen ins Gewissen zu reden. Hat aber alles nichts geholfen. Richtig fünsch sind die geworden.«
Tom hatte keine Ahnung, worüber der Pastor sprach. Er wartete, dass der Geistliche weiter sprach.
»Alle im Dorf waren fest davon überzeugt, dass Hannes die kleine Britta Johannsen umgebracht hatte. Bei der Gerichtsverhandlung wurde er jedoch aus Mangel an Beweisen freigesprochen. War ja auch richtig so. Gab ja noch nicht mal eine Leiche. Britta war einfach verschwunden. Das nun Hannes in die Schuhe zu schieben war nicht richtig«, Pastor Jensen schüttelte kurz seinen Kopf, ehe er fortfuhr. »Aber die Leute im Dorf behaupteten steif und fest, dass Hannes Britta ermordet hätte.«
In Toms Kopf wirbelten plötzlich die Gedanken durcheinander. ›Onkel Hannes ein Mörder? Britta Johannsen? Es gab keine Leiche? Gerichtsverhandlung?‹ Die eben gehörten Sätze verursachten ihm Kopfschmerzen. Er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Hilflos blickte er den Pastor an. Seine Gefühle fuhren Achterbahn.
»Ich muss dann mal los.« Tom stand ruckartig auf.
Pastor Jensen schaute überrascht auf. Sein Gast hatte den Kaffee nicht einmal angerührt.
»Was hast du denn nun vor mit dem Haus von Hannes?«
»Verkaufen.«
Tom nickte noch einmal kurz zum Abschied und trat schnell hinaus an die frische Luft. Dreimal atmet er tief durch, sog die Luft bis in die Spitze seiner Lungenflügel ein.
Mit dem Wagen fuhr er in Richtung Küste, ließ das Ortsschild Risum-Lindholms hinter sich. Er musste erstmal einen klaren Kopf kriegen. Das gelang ihm am Meer immer am besten. Über den alten Außendeich lenkte er den Wagen durch den Koog. Sein Blick glitt über die scheinbar unbegrenzte Weite, seine Gedanken schweiften zurück in seine Kindheit.
Onkel Hannes saß am Küchentisch und schnitt mit dem großen Brotmesser Scheiben von einem riesigen Brotlaib ab. Niemals hätte Tom sich vorstellen können, dass sein Onkel jemanden ermordet haben könnte, schon gar nicht ein kleines Mädchen. Unheimlich war er ihm manchmal schon vorgekommen, aber Angst hatte Tom nie wirklich verspürt.
Er parkte direkt hinter dem Deich, neben dem kleinen Strandkiosk. Der Wind wehte frisch vom Meer, es war Hochwasser. Er zog seinen Fleecepullover über und lief los.
Außer ihm waren noch einige andere Spaziergänger unterwegs. Möwen kreisten über dem Meer, die Sicht war klar, am Horizont konnte er einige Halligen und Föhr erkennen.
Nach einer Weile setzte er sich auf eine Bank. Das gleichmäßige Rauschen der Wellen beruhigte ihn. Er sah wieder seinen Onkel vor sich.
›Onkel Hannes ein Mörder? Das kann gar nicht sein‹, dachte er. ›Wortkarg, brummig, etwas finster wirkend, das ja, aber ein Mörder? Wie waren die Leute nur darauf gekommen? Und dann sollte er auch noch ein kleines Mädchen auf dem Gewissen haben?‹ Ihm fiel der Brief ein, den er gestern Abend noch vorm Einschlafen gelesen hatte. Nun wurde ihm klar, warum niemand mit Onkel Hannes an einem Tisch hatte sitzen wollen. Aber Tom hatte doch schließlich jahrelang mit ihm zusammengewohnt. Er konnte sich nicht vorstellen, dass sein Onkel zu einem Mord fähig gewesen sein sollte.
Die Wellen rollten gleichmäßig gegen die Befestigungssteine. Sein Handy vibrierte in der Hosentasche. Auf dem Display stand Monikas Name.
»Hallo Schatz«, nahm er den Anruf
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