Deichgrab
die sie zum Abendessen einladen wollte.
»Du Hanna, verzeih, aber mir geht es heute nicht so gut.«
»Was hast du denn?«
Sie erzählte von ihrer schmerzenden Hüfte.
»Soll Fritz dich zu Lorentz fahren?«
Frieda lehnte dankend ab.
»Vielleicht überlegst du es dir ja noch einmal wegen heute Abend.«
Draußen war es trüb, aber wenigstens regnete es nicht. Sie nutzte ihren Regenschirm als Gehhilfe, quälte sich die Dorfstraße zum Pflegeheim entlang, als plötzlich ein Wagen neben ihr hielt.
»Steig ein, ich fahre dich«, rief ihr Fritz durch das geöffnete Fenster zu.
Frieda war verwundert. Hatte Hanna Fritz geschickt oder war er nur zufällig vorbeigekommen? Sie stieg zu ihm in den Wagen.
Er sei gerade im Hafen gewesen, habe Krabben geholt, erklärte er.
»Möchtest du auch welche?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Komm doch heute Abend zum Essen. Hanna würde sich freuen.«
»Mal sehen.«
Lorentz lag in seinem Bett und starrte an die Decke.
»Hallo mein Schatz«, flüsterte sie, »wie geht es dir denn heute?«
Keine Reaktion. Sein Blick schien durch sie hindurch zu gehen. Mühsam versuchte sie zu lächeln.
»Soll ich dir etwas vorlesen?«
Da sie keine Antwort erwartete, griff sie nach dem Buch auf dem Nachttisch, schlug es auf und begann laut zu lesen:
»Ein donnerartiges Rauschen zu seinen Füßen weckte ihn aus diesen Träumen; der Schimmel wollte nicht mehr vorwärts. Was war das? – das Pferd sprang zurück, und er fühlte es, ein Deichstück stürzte vor ihm in die Tiefe.«
28
Tom schätzte die Entfernung zum Haubarg auf ungefähr 50 Kilometer. Das war wirklich nicht gerade in der Nähe, aber er wollte Marlene unbedingt wiedersehen. Warum, darüber war er sich selbst nicht ganz im Klaren.
Er startete den Motor und fuhr die B 5 bis kurz hinter Husum. In einer scharfen Linkskurve bog er Richtung Simonsberg ab. Ab hier war der Rote Haubarg ausgeschildert.
Gleich hinter dem Ortsausgang des kleinen Dorfes erschien auch schon das imposant wirkende Gebäude zu seiner Rechten in einiger Entfernung. Er fragte sich, woher der Hof seinen Namen hatte, denn statt der erwarteten roten Ziegel strahlte ihm der Haubarg in schneeweißem Glanz entgegen.
Er fuhr die Auffahrt hinauf und sah Marlenes roten Wagen auf dem Parkplatz stehen, der kurz vor dem Gebäude rechts für Besucher eingerichtet war. Er parkte seinen Wagen direkt neben ihrem und ging den Rest der Auffahrt hinauf, bis er vor dem großen, alten Bauwerk stand.
In der alten Scheune war ein kleines Museum eingerichtet. Marlene betrachtete gerade die alten Landmaschinen, als er durch das Scheunentor trat. Sie drehte sich um und lächelte.
»Hallo«, sagte er verlegen.
»Haben Sie gut hergefunden?«
Er nickte.
Sie schlug vor, einen kleinen Spaziergang zu machen.
»Anschließend können wir uns hier in der Gaststube stärken. Hier gibt es den besten Kuchen weit und breit.«
Während sie den kleinen Weg durch den Koog Richtung Nordsee liefen, erzählte Marlene, was sie am Vormittag alles im Hattstedter Neuen Koog und Sterdebüll herausgefunden hatte. Die Orte waren angeblich Schauplätze des ›Schimmelreiters‹.
»Aber auch dieser Koog kann nach neueren Forschungsergebnissen nicht als Schauplatz ausgeschlossen werden«, antwortete sie auf seine Frage, warum sie sich dann hier treffen würden.
Sie hatten den Außendeich erreicht und Tom lauschte ihren Ausführungen über die Landschaft und wie Storm sie in seinen Werken mit eingearbeitet hatte. Er war fasziniert von der Begeisterung, mit der sie über das Land und die Leute sprach. Und er hörte ihr gerne zu. Ihre Wangen glühten, ihr blondes Haar wehte leicht im Wind.
»Hier ist 1962 während der Sturmflut der Deich gebrochen«, erklärte sie, nachdem sie die von der Landseite steile Seite des Außendeiches erklommen hatten.
»Kaum vorstellbar, mit welcher Kraft das Meer wüten kann.«
Er ließ seinen Blick über das Wasser schweifen, das ruhig vor ihnen lag.
»Zum Glück sind damals nicht viele Menschen ums Leben gekommen, vielleicht auch ein Verdienst von Storm«, sagte sie leise.
Er verspürte auf einmal den Wunsch, sie zu berühren. Wie versehentlich streifte er ihren Arm mit seiner Hand. Sie drehte sich um. Traurigkeit lag in ihrem Blick und er fragte sich, woran sie wohl dachte.
»Wollen wir umkehren?«
Marlene nickte.
Auf dem Rückweg war sie schweigsam. Tom hatte das Gefühl, sie aufmuntern zu müssen und erzählte ihr von seiner Verwunderung über den Anstrich des
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