Deichgrab
sagte. Aber im Augenblick war ihm das auch völlig egal. Schnell versprach er, sich sofort bei ihr zu melden, wenn feststünde, wann er nach Hause kommen konnte. Dann legte er auf.
Von ›ich liebe und vermisse dich‹ hatte er nichts gesagt. Aber die Worte, die ihm sonst so einfach über die Lippen gingen, hatte er einfach nicht herausgebracht. Wahrscheinlich, weil er sie nicht weiter belügen wollte.
Er nahm die Weinflasche vom Küchenschrank, goss sich ein Glas ein und nahm einen großen Schluck.
Irgendwie hatte sein Leben sich verändert. Sein Onkel sollte ein Mörder gewesen sein, die Anfeindungen im Dorf, der mysteriöse Einbruch, die Welt, in der er als Kind gelebt hatte, war nicht mehr dieselbe. Und nicht nur das. Er fing an, die Dinge zu hinterfragen, nicht alles so hinzunehmen, wie es auf den ersten Blick schien. Und vielleicht war auch Marlene ein Grund, der ihn über sein Leben nachdenken ließ.
War er wirklich zufrieden mit dem, was er erreicht hatte? War Monika die Frau, nach der er immer gesucht hatte? War er glücklich?
Er hatte sich sein Leben immer anders vorgestellt. Arzt hatte er werden wollen, so wie sein Großvater. Aber schon der Aufnahmetest hatte ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht. Er hatte sich deshalb für BWL entschieden. Für das Studium hatte man wenigstens zu der Zeit noch keinen Numerus c lausus und keinen Aufnahmetest verlangt.
Nach dem Abschluss hatte er zunächst einen guten Job bei einer großen Unternehmensberatung bekommen. Als man ihm anbot, als Teilhaber in das Unternehmen einzusteigen, hatte er zugesagt.
Er verdiente gut, die Arbeit machte ihm Spaß, aber glücklich war er nicht. Glück war für ihn ein Zustand völliger Freiheit. Frei sein von allem, was einen daran hinderte, man selbst zu sein. Glück konnte man nach seiner Auffassung nur empfinden, wenn man nichts als sich selbst spürte.
Und Liebe? Er war sich sicher, in Monika verliebt gewesen zu sein, als er sie kennenlernte. Aber Verliebtsein war nicht dasselbe wie Liebe. Liebe ging tiefer, war intensiver und vor allem blieb sie, auch wenn die Schmetterlinge im Bauch längst weitergezogen waren.
Er leerte das Weinglas und machte sich daran, die Sachen von Onkel Hannes weiter auszusortieren.
26
Als er am nächsten Morgen aus dem Fenster blickte, hing noch der Morgennebel über den Wiesen und hüllte alles in einen undurchdringlichen Schleier.
In der Küche setzte er Wasser für den Kaffee auf und wählte die Nummer der Auskunft. Tom hatte Marlene zwar gesagt, ihm wäre bekannt, wo der Rote Haubarg lag, aber das war gelogen.
Er notierte die Adresse auf einem kleinen Notizzettel.
Er blickte sich in der Küche um. Auf der Eckbank hatte er einige Sachen von Onkel Hannes gestapelt, die er behalten wollte. Bei vielen Dingen war ihm die Entscheidung schwer gefallen und so hatte sich einiges angesammelt.
Aus dem Wohnzimmer wollte er fast nichts behalten. Als Kind war ihm der Aufenthalt darin nur selten gestattet gewesen. Er hatte sich hauptsächlich im Zimmer unterm Dach und in der Küche aufgehalten.
Vom Dachboden holte er einen großen Karton. Dabei fiel ihm die alte Bauerntruhe hinter einem der Querbalken auf. Nur mühsam ließ sich der massive Holzdeckel öffnen. Die Scharniere ächzten. Im Inneren der Truhe lagen alte Kleider, darunter ein Fotoalbum. Tom nahm es heraus. Staub wirbelte auf und tanzte in dem Lichtstrahl, der durch das kleine Dachfenster fiel.
Zurück in der Küche goss er sich einen Kaffee auf und setzte sich mit dem Album an den Tisch. Er nahm einen Schluck aus seiner Tasse und schlug die erste Seite auf.
Alte Schwarz-Weiß-Fotografien waren fein säuberlich mit Fotoecken auf den schwarzen Karton geklebt. Zum Teil waren sie sehr unscharf, aber Tom erkannte Onkel Hannes dennoch auf einigen der Bilder. Sie zeigten ihn mit verschiedenen Personen. Eine Frau war auch dabei. Das Seidenpapier knisterte geheimnisvoll, als er zwischen den Seiten blätterte. Etliche Bilder fehlten. Er fragte sich, ob sein Onkel sie absichtlich herausgenommen hatte, oder ob sie einfach herausgefallen waren.
Eines der Fotos erregte sein besonderes Interesse bei Tom. Es zeigte Hannes mit einem großen, dunkelhaarigen Mann. Obwohl die Fotografie sehr unscharf war, glaubte er, den Mann zu kennen. Es erschien ihm, als wäre er ihm vor noch nicht allzu langer Zeit begegnet. Ihm fiel nur nicht ein, wo es gewesen war. Er starrte auf das Foto, konnte sich aber nicht erinnern. Vielleicht wusste Haie, wer der Mann auf
Weitere Kostenlose Bücher