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Dein bis in den Tod

Dein bis in den Tod

Titel: Dein bis in den Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Staalesen
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Mann auf mich wartete.
    Damit hatte ich zwei Karten in der Hand. Aber das war auch alles. Die anderen Karten – ob ich überleben würde, ob ich meine Fragen stellen würde, ob ich überhaupt in einer Stunde noch irgendetwas tun würde –, die lagen noch nicht auf dem Tisch. Und jetzt gab es keinen Joker mehr im Spiel. Jetzt war ich allein mit dem Gegenspieler.
    Der Fahrstuhl bewegte sich wieder.
    »Roll den roten Teppich aus«, sagte ich halblaut. »Hier kommt der Clown.«
    Niemand antwortete, und die Dunkelheit war unverändert dicht. Meine Augen hatten sich noch nicht daran gewöhnt, ich erkannte andeutungsweise die Konturen der vier Fahrstuhlecken.
    Der Fahrstuhl machte ein paar abrupte Sprünge nach oben, als würde er jetzt mit dem Fuß die Winde bedienen.
    Womit würde er mich willkommen heißen?
    Wenn er eine Schusswaffe hatte, hatte ich keine Chance. Er könnte den ganzen Fahrstuhl im Laufe weniger Sekunden mit einer abgeschnittenen Schrotflinte durchlöchern, und ich wäre nicht mehr wert, als ein paar Kilo Hackfleisch – und so würde ich auch aussehen. Exit Varg Veum: von Erde bist du genommen, zu Hackfleisch sollst du werden …
    Mit einem kleinen Klick kam der Fahrstuhl vor der dreizehnten Tür zum Stehen. Der dreizehnte Stock – das klang verhängnisvoll.
    Das lange Fenster war dunkel. Ich konnte nichts sehen.
    Ich blieb stehen und horchte auf meinen eigenen, angespannten, stoßweisen Atem.
    Mir blieben nicht viele Möglichkeiten. Ich konnte die Tür selbst öffnen und hoffen, dass ich mich in die Dunkelheit und zur Seite werfen konnte – bevor etwas geschah. Aber der Moment, in dem ich die Tür öffnete, würde der gefährlichste sein: Ich wäre hilflos und meine eine Hand wäre beschäftigt. Ich konnte es lassen und warten, bis sie von außen geöffnet wurde. Aber dann säße ich in jedem Fall in der Falle und hätte so gut wie keine Bewegungsfreiheit mehr.
    Ich blieb stehen und wartete ab, ein paar lange Sekunden, die sich unausweichlich in eine Minute verwandelten, in zwei …
    Ich hatte nicht die Nerven, länger zu warten.
    Mit der linken Hand ergriff ich den Türgriff, spannte die Muskeln.
    Dann warf ich mich nach vorn, folgte der Tür nach links, sodass ich sie wie einen Schild vor mir hatte, und als sie ganz offen war, krümmte ich den Nacken und warf mich in die Dunkelheit hinaus.

50
    Die Dunkelheit war erfüllt von starkem Ölgeruch, harten Kanten und einem anderen Menschen. Der Ölgeruch schlug mir entgegen und ich taumelte über etwas, das die Winde sein musste, und etwas Hartes und Schmerzhaftes traf mich direkt über dem Knie. Von der Decke fiel ein Teil der Dunkelheit schwingend auf mich herab. Es fühlte sich an wie eine Eisenstange, und sie traf mich mit mörderischer Kraft an der rechten Schulter. Hätte er ein Stück daneben getroffen, hätte er meinen Schädel in zwei Teile gespalten und ich wäre fertig gewesen.
    Der andere Mensch stöhnte bitter, als er hörte, wie ich die Bewegung durch die Dunkelheit fortsetzte, bis ich auf eine Wand traf und bremsen musste. Ich hätte schreien können vor Schmerz, aber ich biss die Zähne zusammen. Meine Schulter fühlte sich an, als habe jemand sie entzweigebissen, der Arm darunter war völlig gefühllos. Meine angestrengten Augen starrten in die Dunkelheit. Ich sah nichts.
    Dann hörte ich einen gepressten, zischenden Laut und schnelle, fast trippelnde Schritte. Kurz darauf schlug etwas in den Putz direkt neben meinem Kopf ein. Der Beton hinter mir sang.
    Das war der zweite Fehlschlag, aber ich konnte mich nicht darauf verlassen, dass er weiterhin daneben treffen würde. Und ich hatte keine Lust, wie eine geteilte Grapefruit zu enden. Ich trat blind in die Dunkelheit und traf, aber nicht richtig. Dann schwang ich den gesunden linken Arm zu einem Schlag ins Leere, denn er war schon aus meiner Reichweite und wieder in die Dunkelheit getaumelt.
    Ich versuchte, mich zur Seite zu schleichen, aber Putzreste knirschten unter meinen Füßen. Ich blieb stehen.
    Wir standen mucksmäuschenstill im Dunkeln und belauerten einander, versuchten, die Konturen des anderen auszumachen. Meine Augen hatten zu tränen begonnen. Sie schmerzten. Die rechte Hand erwachte wieder zum Leben, aber es war eine schmerzhafte Geburt. Als ich meine Finger wieder spürte, merkte ich, dass ich noch immer die Taschenlampe in der Hand hielt.
    Ich suchte den Schalter und hielt die Lampe vor mir in die Luft.
    Ich wollte sie nicht einschalten, bevor ich sicher war, wo er war.

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