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Dein bis in den Tod

Dein bis in den Tod

Titel: Dein bis in den Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Staalesen
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stehen. Hinter dem Baum standen ein paar Wacholderbüsche, eine Handbreit oder zwei voneinander entfernt. Wenn ich nur zwischen sie huschen konnten, dann würde mich die Dunkelheit schnell verschluckt haben.
    Ich lehnte mich mit der Schulter an den Baum und begann langsam, mich am Stamm entlang auf die Rückseite zu bewegen.
    Hamre kam aus der Hütte. Er blieb vor der Türöffnung stehen, und ich sah, dass er einen schnellen Blick in meine Richtung warf. Ich tat, als sähe ich ihn nicht. Aus dem Augenwinkel nahm ich wahr, dass er einen der Techniker zu sich winkte. Er sprach ein paar Worte mit ihm, dann verschwanden beide in der Hütte. Ich schob mich ganz hinter den Baum, hüpfte seitwärts zwischen die Wacholderbüsche, schlich geschwind zehn, fünfzehn Meter die zugewachsene Böschung hinunter und erhöhte das Tempo.
    Die ganze Zeit wartete ich darauf, dass jemand rufen würde, und hielt vor Spannung den Atem an.
    Aber niemand rief. Ich lief noch etwas schneller. Äste schlugen mir ins Gesicht, Zweige brachen unter meinen Füßen. Noch immer rief niemand.
    Unten auf dem Asphalt wurde ich wieder langsamer und tat, als sei ich ein zufälliger Spaziergänger. Aber ich merkte selbst, dass ich steif und angespannt ging und deshalb wohl kaum wie ein einsamer Abendwanderer aussah.
    Ich lief schnell auf den Hochhausblock zu, der mein Ziel war. Ohne jemandem zu begegnen, betrat ich den Fahrstuhl. Ich drückte auf den Knopf zum zwölften Stock.
    Der Fahrstuhl setzte sich in Bewegung. Wie eine bedächtige Möwe schwebte er langsam die Stockwerke hinauf: 1. Etage, 2. 3. Ich dachte an Wenche Andresen. So hatte sie dagestanden, in einem solchen Fahrstuhl. 4. 5. 6. Jonas Andresen war mit einem solchen Fahrstuhl gefahren, so lange er hier draußen gewohnt hatte, bis sich alle Fahrstuhltüren für immer vor ihm schlossen. 7. 8. 9. Solveig Manger fiel mir ein, und ich überlegte, ob sie jemals in einem solchen Fahrstuhl gestanden hatte. Aber ich konnte den Gedanken nicht zu Ende bringen: Zwischen dem 9. und dem 10. Stock blieb der Fahrstuhl stehen. Und gleichzeitig wurde es dunkel. Absolut dunkel.
    Aber das Erschreckendste war weder, dass der Fahrstuhl stehen blieb, noch dass es dunkel war. Das Erschreckendste war, dass sich nach ungefähr einer Minute der Fahrstuhl wieder zu bewegen begann: nicht gleichmäßig wie vorher, sondern ungleichmäßig und ruckartig. Als wäre irgendjemand oben im Maschinenraum. Irgendjemand, der mit Hilfe der handbetriebenen Winde, die bei Stromausfall verwendet wurde, langsam, aber sicher den Fahrstuhl zu sich heraufzog. Irgendjemand, der schon getötet hatte.

49
    Wenn man in einem Fahrstuhl eingesperrt ist und das Licht ausgeht, dann wird es wirklich dunkel. Es gibt keinen Himmel über einem, keine blassen Sterne, keinen Mond irgendwo hinter dem Horizont, der eine Illusion von Licht die Himmelswölbung hinaufschickt. Es gibt kein entferntes elektrisches Licht, keine lockenden viereckigen Fenster, auf die man sich zubewegen kann, keine Lagerfeuer unten im Tal. Es gibt gar nichts. Man befindet sich inmitten von Dunkelheit, und wenn man die Hand ausstreckt, spürt man, dass die Dunkelheit hart und metallisch ist und einen eng, eng umfängt.
    Wenn man in einen Fahrstuhl eingeschlossen ist und das Licht brennt, dann spürt man eine Art Sicherheit, dann beschützt einen das Licht in seiner hohlen Hand und gibt einem Trost. Aber wenn man in einen Fahrstuhl eingesperrt ist und es ganz dunkel ist, dann gibt es keine Sicherheit, dann ist es, als würde der Fahrstuhl langsam um einen herum zusammenschrumpfen, als sei es nur eine Frage der Zeit, bis man zwischen schweren Stahlplatten zerdrückt würde.
    Die ersten Minuten, nachdem der Fahrstuhl stehen geblieben war, waren voller Angst, voller reiner und unverhohlener Angst. Eine Angst, die einfach den Körper ergreift und ihn schüttelt, ohne Sinn und Verstand, ohne Quelle oder Ursprung. Sie setzte sich in den Magen, in den Unterleib, um die Herzregion und in den Hals. Es fiel mir schwer zu atmen, der Mund wurde im Laufe von Sekunden trocken, und in meinen Ohren begann es zu rauschen. Ich musste mich an die dunkle Wand hinter mir lehnen und wenn ich etwas gesehen hätte, würde ich den Eindruck gehabt haben, dass sich alles drehte. Jetzt war die Dunkelheit so kompakt, dass nicht einmal mehr Raum war für Schwindel. Denn damit einem schwindelig wird, braucht man zumindest einen festen Punkt – einen Punkt, der eben nicht mehr fest ist.
    Als der Fahrstuhl sich

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