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Dein Ende wird dunkel sein (German Edition)

Dein Ende wird dunkel sein (German Edition)

Titel: Dein Ende wird dunkel sein (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Paver
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sind, eine Art Generalprobe. Und es hat uns die Möglichkeit zu einem Erkundungsgang verschafft.
    Algie ließ die Hunde an ihren Pfosten angebunden, nahm sein Gewehr und ging jagen; Gus und ich wanderten zu den Vogelklippen auf der Ostseite der Bucht.
    Das Wetter ist seit unserer Ankunft ideal gewesen, und heute war wieder ein strahlender, windstiller Tag, erstaunlich warm in der Sonne, nur wenig unter null. Die See war intensiv blau, die Berge spiegelten sich darin, und draußen in der Bucht erspähte ich drei bärtige Seehunde, die sich auf Eisschollen aalten. Ich atmete die reine, salzige Luft in tiefen Zügen ein, und sie stieg mir zu Kopf wie Wein.
    Näher bei den Klippen nahm der Guanogeruch überhand. Wir kletterten zwischen den Felsen herum; Gus blieb ab und zu stehen, um sich gelben arktischen Mohn und grüne Steinbrechbüschel anzusehen. Er ist von der Natur begeistert, und es macht ihm Freude, mich, den unwissenden Physiker, auf etwas aufmerksam zu machen. Ich habe nichts dagegen. Es gefällt mir.
    Von den Klippen hallte das rasselnde Stöhnen der Trottellummen wider. Ich reckte den Hals und sah den Himmel vor lauter Vögeln schwarz gesprenkelt wie schmutziger Schnee. Weitere hockten zu Tausenden auf Felsvorsprüngen. Im Schatten der Klippen war das dunkelgrüne Wasser mit weißen Federn übersät. Dazwischen paddelten Lummenküken. Flaumig und noch flugunfähig, ritten sie auf den Wellen und stießen dabei helle, durchdringende Schreie aus.
    «Die armen Kleinen», sagte Gus. «Ihre ersten drei Wochen verbringen sie auf einem Felsvorsprung mit dem Gesicht zur Felswand. Dann springen sie hinunter, und wenn sie Glück haben, landen sie auf dem Wasser und schwimmen mit ihren Eltern hinaus aufs Meer.»
    «Wenn sie Glück haben», bemerkte ich. Ich hatte soeben beobachtet, wie eine Möwe herabstieß und ein Küken im Ganzen verschlang.
    «Kein schönes Leben, was?», meinte Gus. «Drei Wochen mit dem Schnabel an einen Felsen geklemmt, dann springst du hinunter und wirst gefressen.»
    Ein einzelnes Küken schaukelte piepsend auf den Wellen. Vielleicht war es von seinen Eltern getrennt worden, oder die Polarfüchse, die am Fuß der Klippen herumspuken wie kleine graue Gespenster, hatten sie geholt.
    Als wir die Landspitze umrundeten, hörten wir in der Ferne Algies Gewehr knallen. Wir beobachteten eine große, tyrannische Möwe, die eine Lumme so lange schikanierte, bis diese ihren Fisch ausspie. Gus fand einen Rentierschädel und zeigte mir die abgewetzten Zähne. Er sagte, das Tier sei wohl hungers gestorben, und das mit vollem Magen, weil es keine Nahrung mehr kauen konnte. Wir setzten uns auf die Steine, badeten in der Sonne, und ich dachte an die Schönheit und Grausamkeit ringsum.
    Gus sagte unvermittelt: «Neulich habe ich mich nicht eben geschickt ausgedrückt. Ich hatte sagen wollen, ich glaube nicht, dass du deine Chance verpasst hast.»
    Ich spürte, dass ich rot wurde.
    «Ich meine», fuhr er fort, «auch wenn deine Familie schwere Zeiten durchgemacht hat, muss dich das doch nicht ebenso zermürben.»
    «Hat es schon», murmelte ich.
    «Das lasse ich nicht gelten. Du bist hier. Es ist ein Neubeginn. Wer weiß, was sich daraus ergeben wird?»
    «Du hast leicht reden», versetzte ich.
    «Aber Jack –»
    «Gus, hör auf! Ich bin hierhergekommen, um mein Leben hinter mir zu lassen, nicht, um alles aufzurühren. O.k.?»
    Ich hatte in schärferem Ton gesprochen als beabsichtigt, und es folgte ein unbehagliches Schweigen. Ich zerpflückte ein Büschel arktischen Mohn. Gus zählte die Sprossen am Geweih des Rentiers.
    Dann fragte er: «Hattest du in London gar keine Freunde?»
    Ich zuckte mit den Achseln. «Alle, die ich am UCL kannte, haben weiterstudiert. Warum hätte ich mich mit ihnen treffen sollen? Und den Jungs bei Marshall Gifford hatte ich nichts zu sagen. Da dachte ich mir, scheiß drauf, ich mach es im Alleingang.»
    Seine Lippen kräuselten sich. «Du bist so extrem.»
    «Bin ich nicht.»
    «Bist du doch. Wie viele Leute kennst du, die sieben Jahre vollkommen für sich alleine gelebt haben?»
    «Da ich überhaupt keine Leute kenne, lautet die Antwort niemand.»
    Er lachte. «Das meine ich ja! Extrem!»
    Ich verkniff mir ein Lächeln.
    «Und nach alledem landest du mit Algie und mir in einem Zelt.» Er zögerte. «Sag mal ehrlich. Ist das eine Belastung für dich?»
    Ich warf den Mohn fort und sah Gus an. Das Sonnenlicht funkelte in seinen goldblonden Haaren und beschien sein scharfes, sauberes

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