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Dein Ende wird dunkel sein (German Edition)

Dein Ende wird dunkel sein (German Edition)

Titel: Dein Ende wird dunkel sein (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Paver
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wissen es nicht», wiederholte er.
    «Dann sagen Sie es mir», forderte ich ihn auf. «Kommen Sie, Sie sind ein ehrenwerter Mann. Und dennoch haben Sie Ihr Wort gebrochen. Warum? Warum wollen Sie uns nicht nach Gruhuken bringen? Was gibt es dort Schlimmes?»
    Sein Gesicht wurde dunkelrot. Er funkelte mich zornig an.
    Einen Augenblick lang dachte ich, er würde es mir sagen. Dann sprang er auf die Füße und schlug mit beiden Fäusten auf den Tisch. « Helvedes fand! Wie Sie wollen ! Dann also nach Gruhuken!»
    3. August, vor Gruhuken
    In der Bucht ist einiges an Treibeis, aber auch viel offenes Wasser, und Mr. Eriksson hat hundert Meter vor dem Strand Anker geworfen. Wir hatten an Land gehen und Erkundungen anstellen wollen, doch er sagte, es sei zu spät, die Mannschaft sei müde. Nach dem gestrigen Streit hielten wir es für das Beste, ihm seinen Willen zu lassen.
    Nach dem Abendessen ging ich an Deck und hörte dem Eis zu, wie es Selbstgespräche führte. Ich bilde mir ein, es klingt anders als das Eis, das wir weiter südlich erlebt haben. Härter, rauer. Aber das ist nur meine Phantasie.
    An der Küste entlang und um das Nordwestkap herum hatten wir eine reibungslose Fahrt, wenngleich das Wetter immer noch bedeckt und neblig war. Je weiter wir nach Osten kamen, umso mehr stieg unsere Erwartung. Nur noch eine kurze Strecke lag vor uns. Gus und Algie beugten sich über die Reling und zählten die Landmarken auf der Karte ab. Ich ging ins Ruderhaus, um einen letzten Versuch beim Kapitän zu unternehmen.
    «Mr. Eriksson», begann ich in dem kläglichen Bemühen, freundlich zu sein.
    «Professor», erwiderte er, ohne die See aus den Augen zu lassen.
    «Ich möchte Ihnen nicht zu nahe treten», sagte ich vorsichtig. «Und ich möchte nicht sagen, dass Sie nicht ehrlich mit uns waren. Aber ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mir von Mann zu Mann sagen würden, warum Sie uns so widerwillig nach Gruhuken bringen.»
    Den Blick noch auf die Wellen gerichtet, regulierte der Norweger den Kurs. Ganz kurz sah er mich von der Seite an. Etwas an seinem Gesichtsausdruck sagte mir, dass er sich fragte, ob er mir trauen konnte.
    «Bitte», sagte ich. «Ich möchte nur die Wahrheit wissen.»
    «Warum?»
    Ich war verblüfft. «Ist das nicht offensichtlich? Wir werden ein Jahr dort verbringen. Wenn es ein Problem gibt, müssen wir es wissen.»
    «Es ist nicht immer gut, Bescheid zu wissen», sagte er leise.
    «Ich – ich bin mir nicht sicher, ob ich Ihnen beipflichte. Ich finde, es ist immer das Beste, die Wahrheit zu kennen.»
    Er warf mir wieder diesen sonderbaren Blick zu. Dann sagte er: «Manche Orte … bringen Unheil.»
    «Was?» Ich war bestürzt. «Wovon sprechen Sie?»
    «Gruhuken. Es bringt … Unheil. Dort passieren Dinge.»
    «Was für Dinge?»
    «Schlimme Dinge.»
    «Aber was für welche? Vertrackte Strömungen in der Bucht? Schlechtes Wetter jenseits des Gletschers? Was ist es?»
    Er kaute an seinem Schnurrbart. «Es gibt schlimmere Dinge.»
    Wie er das sagte. Als könnte er es nicht ertragen, daran zu denken.
    Ich war einen Augenblick lang wie vor den Kopf geschlagen. Dann sagte ich: «Aber Mr. Eriksson, Sie werden doch gewiss nicht glauben, dass ein Ort – nichts als ein Haufen Gestein – Schlimmes geschehen lassen kann?»
    «Das habe ich nicht gesagt.»
    «Was ist es dann?»
    Schweigen.
    Verstimmt atmete ich tief aus. Das war mein Fehler. Sein Gesicht wurde verschlossen, und ich wusste, dass nichts mehr aus ihm herauszubekommen sein würde.
    Rufe an Deck. Gus und Algie winkten mir strahlend zu. «Schau mal, Jack, schau !»
    Während ich mit dem Kapitän gesprochen hatte, war das Wetter plötzlich umgeschlagen, wie es für die Arktis so typisch ist. Die Wolken hatten sich gelichtet. Der Nebel hatte sich aufgelöst.
    Der erste Anblick. Wie ein Stich ins Herz. Diese Einsamkeit. Diese Schönheit.
    Die Sonne glühte am erstaunlich blauen Himmel. Blendende schneebedeckte Berge umschlossen eine weite, mit Eisbergen gesprenkelte Bucht. Das Wasser war glatt wie Glas, und die Berggipfel spiegelten sich darin. An der Ostseite der Bucht, auf hohen Klippen von der Farbe getrockneten Blutes, wimmelte es von Seevögeln, deren Geschrei durch die Entfernung gedämpft war. Auf der Westseite fielen glänzende blaugraue Felsplatten zum Meer hin ab, ein Bach glitzerte, zwischen Felsbrocken kauerte eine kleine verfallene Hütte. Der kohlschwarze Strand war mit silbrigem Treibholz und gigantischen Walgerippen übersät. Dahinter

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