Dein Ende wird dunkel sein (German Edition)
die offene See.
Ich wünschte, ich wüsste so viel wie Bjørvik. Vielleicht wäre ich dann imstande, es mit diesem Ort aufzunehmen.
Er führt ein Leben in unvorstellbarer Einsamkeit. Sein Hauptquartier steht am Wijdefjord, doch jeweils ein paar Tagesmärsche entfernt hat er sich noch vier weitere Hütten gebaut, mit einer Reihe Fuchsfallen und Selbstschussanlagen für Bären dazwischen. Als Köder für die Fuchsfallen verwendet er die Köpfe von Seevögeln, und Robbenspeck für die Bärenfallen, und alle zwei Wochen sieht er danach. Wäre der Sturm nicht gewesen, hätte er nicht die Zeit gehabt, mich zu besuchen. Der Sturm brachte den Tiefschnee mit sich, den die Füchse meiden, weil sie Angst haben, in Wehen stecken zu bleiben und von Bären gefressen zu werden.
Bjørvik sagt, wegen der Überjagung sei die Ausbeute viel schlechter als früher. Letzten Winter hat er nur zwölf Füchse und zwei Bären erlegt; wenigstens hat er für die Pelze einen anständigen Preis bekommen, und ein Apotheker in Tromsø hat ihm für die Gallenblasen der Bären fünfundzwanzig Kronen bezahlt, weil sie ein gutes Heilmittel gegen Rheumatismus sind.
Mir erscheint es seltsam, dass er über diese ehrfurchtgebietenden Bären und schönen kleinen Füchse sprechen kann, als seien sie nichts weiter als lebende Pelze; und doch hat er ein verwaistes Junges gezähmt und zum husrev (ein «Hausfuchs») gemacht und dann um es getrauert, als es krank wurde und starb. Ich glaube, er ist zu arm, um sich Sentimentalitäten gegenüber Tieren erlauben zu dürfen. Das ist ein Privileg, welches sich nur die Mittelschicht leisten kann. Ich vermute, er missbilligt, dass ich Isaak mit Karamellbonbons verwöhne, doch er ist zu höflich, um sich etwas anmerken zu lassen. Und ganz gewiss missbilligt er, dass die Hunde frei laufen. (Ihm zuliebe habe ich mich darauf beschränkt, sie «tagsüber» frei laufen zu lassen und sie «nachts» in die Hütte zu sperren, was sie nicht ausstehen können.)
Ich wünschte, ich wüsste, warum er stets alleine jagt, doch er hat es nicht erzählt, und ich werde ihn nicht fragen. Nur einmal hat er durchblicken lassen, dass er, als er jung war, nicht eben «Gottes bravster Zögling» gewesen sei. Daraus und aus anderen Kleinigkeiten ziehe ich den Schluss, dass es Aspekte in seiner Vergangenheit gibt, die er bereut.
Der Himmel ist wieder klar, und der Mond ist zurück – doch es ist erschreckend, wie sehr er abgenommen hat. Er verändert sich unablässig. Manchmal ist er blassgolden, manchmal bläulich weiß. Manchmal hat er einen leicht grauen Hof, der an den Rändern blassrot ausläuft.
Eigentlich aber beschreibt keine dieser Farben es richtig, es ist eine Mondfarbe, für die ich keine Worte finde. Vielleicht ist es auch gar keine Farbe; vielleicht ist das Licht zu schwach, als dass meine Augen farbig sehen könnten, und in Wirklichkeit sehe ich die Welt schwarzweiß, so wie Isaak.
Und überhaupt, wozu versuche ich, die Farben zu beschreiben? Liegt es an dem menschlichen Zwang, den Dingen Namen zu geben, um die Kontrolle zu behalten? Vielleicht ist unser meteorologisches Projekt vom gleichen Zwang getrieben: all das Beobachten, Messen, Aufzeichnen. Alles in dem Versuch, dieses riesige, stumme Land erträglich zu machen.
Und liegt darin auch der Grund, weshalb ich dieses Tagebuch führe? Um all die Dinge klarzustellen, ihnen einen Sinn abzuringen? Was man beschreiben kann, kann man begreifen. Was man begreifen kann, muss man nicht fürchten.
Ich sage «alle Dinge klarzustellen», doch natürlich bin ich wählerisch gewesen. Und beim Durchblättern dieser Seiten stelle ich mit Erstaunen fest, welche Auswahl ich getroffen habe. Wieso habe ich mit dem aus der Themse gefischten Leichnam begonnen? Und weshalb habe ich jenen blutbesudelten Eisbären erwähnt, der über seine Beute wacht?
Nein, es ist falsch, zu sagen, ich sei erstaunt über meine Auswahl. Ich bin alarmiert. Mir gefällt das Muster nicht, dem ich folge.
Und wiederum die Frage: Wozu das alles niederschreiben?
Versuche ich tatsächlich, den Dingen, die ich erlebt habe, einen Sinn abzuringen, oder versuche ich, sie in die Vergangenheit zu verbannen, davon abzuhalten, in die Gegenwart einzusickern?
Wäre ich aus anderem Holz geschnitzt, würde ich dies vielleicht tun, um eine Aufzeichnung zu hinterlassen, als Warnung für andere, falls mir etwas geschehen sollte. Doch dazu fehlt es mir an Selbstlosigkeit. Es schert mich nicht, was geschieht, wenn ich gestorben
Weitere Kostenlose Bücher