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Dein Ende wird dunkel sein (German Edition)

Dein Ende wird dunkel sein (German Edition)

Titel: Dein Ende wird dunkel sein (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Paver
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«Gastgeschenk»: einen Beutel mit Rentierherzen, Schneehuhnleber und weiteren ausgewählten Innereien, welche er – gemeinsam mit Schlafsack, Rucksack und Gewehr – die dreißig Kilometer von seiner Hütte bis zu mir auf dem Rücken getragen hatte.
    Weshalb er gekommen war, sagte er nicht, und auch nicht, wie lange er zu bleiben gedachte, und ich fragte ihn nicht. Eriksson hat mir einmal erklärt, dass man in Spitzbergen nicht dazu neigt, Fragen zu stellen. Man geht einfach davon aus, dass ein Gast zumindest eine Woche bleiben wird und dass der Anlass schlicht ein Besuch ist.
    «Ich weiß, ich rede zu viel», platzte es aus mir heraus, als wir auf der Veranda unsere Sachen ablegten, «aber ich bin beinahe drei Wochen ganz allein gewesen.» Ich errötete. Mir wurde klar, dass Bjørvik seit Monaten allein sein musste.
    «Jaa», grunzte er und zog die Stiefel aus. «Besuch ist gut.»
    Seine Stiefel waren typische «Pelztierjägerstiefel»: eine doppelte Lage Segeltuch mit Gummisohle, über zwei Paar Socken getragen und mit Stroh ausgestopft. Er trug den blauen Drillicheinteiler der Robbenfänger und einen schweren Pullover aus ungebleichter Wolle, der streng nach Schaf roch. Nachträglich ist mir klargeworden, dass er arm ist.
    Aufgeregt wie eine junge Gastgeberin, die zum ersten Mal eine Abendeinladung ausrichtet, bot ich ihm einen Platz an und lief dann geschäftig im Hauptraum hin und her, um Lampen anzuzünden, den Ofen anzufachen, Kaffee zu kochen. Er legte die roten Hände auf die Knie und sah sich um.
    Ich suchte einen Sender, der Musik spielte. Ich schusterte eine unglaubliche Mahlzeit zusammen: eingemachtes Kalbsfleisch aus der Dose, Spinat, Eier, Speck, Käse, Haferkekse, eingelegte Kirschen mit Kondensmilch, Erdnusskrokant und alles andere, was mir in den Sinn kam. Zum Teufel mit meinem Rationierungsplan. Dieser Mann war dreißig Kilometer auf Skiern gelaufen, um mich zu besuchen.
    Wir aßen in verlegenem Schweigen. Ich zumindest war verlegen, denn er war meinen Gesprächsausbrüchen höchst einsilbig begegnet. Aber Bjørvik erzählte mir später, dass er schlicht darin vertieft gewesen sei, Ivor Novello im Radio zu lauschen. Er besitzt selber keines, und es ist zwei Jahre her, seit er zuletzt Musik gehört hat.
    Nachdem wir gegessen hatten, bot ich ihm Whisky und Tabak an. Er lehnte den Whisky mit feierlicher Würde ab und stopfte sich die Pfeife. Zu diesem Zeitpunkt machte ich mir wegen der Einsilbigkeit bereits keine Gedanken mehr. Ich habe noch niemals eine Pfeife so sehr genossen wie diese.
    Ivor Novello wich den Nachrichten, und ich drehte die Lautstärke herunter.
    «Ist gut», sagte Bjørvik mit seinem langsamen Nicken.
    Ich widerstand der Versuchung, ebenfalls zu nicken, damit er nicht dachte, ich wollte mich über ihn lustig machen, und stimmte ihm zu, dass es gut sei, sehr gut sogar; auch wenn mir nicht klar war, ob er das Essen, die Musik, den Tabak oder mich meinte.
    Ich sagte: «Wissen Sie, in England war ich am liebsten für mich allein. Und jetzt finde ich, Besuch zu haben ist das Schönste auf der ganzen Welt.»
    Seine Augen funkelten unter den dichten Brauen. Er schlug sich aufs Knie und lachte bellend: «Jaa! Ist gut!»
    Ich schreibe dies in meiner Schlafkoje. Bjørvik liegt in der von Algie, der unteren, die dem Fenster am nächsten ist. Er schnarcht leise: ein wundersames Geräusch.
    Ich bin nicht mehr allein.
    In eine erleuchtete Hütte zurückzukehren. Die Wärme eines gut gefütterten Ofens zu spüren. Und wenn ich drinnen bin, seine Schritte auf dem Plankenweg zu hören, sein Pfeifen beim Holzhacken oder wenn er Eis vom Bach holt. Gestern fühlt sich an wie eine Million Jahre weit weg.
    Jaa. Ist gut.
    12. November
    Zwei Tage sind vergangen wie im Flug. Gestern habe ich mit Algie «gesprochen». Er sagte, es sei alles in Ordnung, es dauere jedoch noch ein «paar Tage», ehe sie aufbrechen würden. Das kann ich jetzt ertragen, weil ich nicht alleine bin. Einen besseren, freundlicheren, umgänglicheren Hausgast könnte sich niemand wünschen. Er erinnert mich auf so manche Weise an Eriksson. Das gleiche zerfurchte Gesicht, das von Zeit zu Zeit, wenn ein Lachen erdbebengleich an die Oberfläche poltert, eine wahre tektonische Plattenverschiebung durchläuft. Der gleiche, halb amüsierte, halb bewundernde Respekt für junge englische «Yentlemen» und ihre Leidenschaft für das Wetter. Der gleiche onkelhafte Beschützerinstinkt: als sei ich ein gleichermaßen talentierter wie ignoranter

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