Dein Ende wird dunkel sein (German Edition)
Gus’ Buch über die Naturgeschichte Spitzbergens. Der spröde Tonfall wirkt beruhigend auf mich. Ab und zu unterbreche ich die Lektüre, um mit Isaak zu reden, oder ich lese ihm ein wenig vor, und dann fegt er mit dem Schwanz den Fußboden. Manchmal spreche ich in Gedanken, und dann bist du es, mit dem ich rede, Gus.
Wie seltsam das ist. Obwohl nur Isaak hier bei mir ist, kann ich nicht laut mit dir sprechen, sondern nur in meinem Kopf. Ich erzähle dir, was geschehen ist. Ich übe, was ich sagen will, wenn ich dich wiedersehe.
Ich spüre mein Tagebuch an meine Brust gebunden. Es fühlt sich an wie ein Brustpanzer. Einmal habe ich geschrieben, ich hätte das Gefühl, du wärst mein Bruder oder mein bester Freund. Aber jetzt glaube ich, es geht womöglich tiefer als das. Ich verstehe es nicht, denn so habe ich noch niemals empfunden. Und ich bin froh darüber, dass ich es in meinem Tagebuch nicht erwähnt habe. Ich könnte es nicht ertragen, wenn du es lesen und dich von mir abwenden würdest.
Womöglich werde ich, wenn ich dich tatsächlich wiedersehe, auch niemals den Mut finden, dir etwas davon ins Gesicht zu sagen. Also bin ich jetzt tapfer und spreche es furchtlos aus, laut:
Gus. Ich liebe dich.
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18
Ich erwache in Finsternis und eisiger Kälte.
Im selben Augenblick, als ich aufwache, weiß ich: Was ich wahrnehme, nicht sein kann – und doch ist es wahr. Ich bin wach und ich sehe es, und es ist real. Ich sehe es durch die offene Türe. Es steht im Hauptraum und sieht zum Nordfenster hinaus. Es ist im Haus.
Jetzt dreht es sich zu mir um. Ich spüre seinen Zorn. Seine Bosheit drängt mich rückwärts in die Koje.
Ich taste panisch nach der Taschenlampe. Kann sie nicht finden. Kann mich nicht aus dem Schlafsack befreien. Ich werfe den Stuhl um, der neben mir steht. Glas zersplittert. Es stinkt nach Paraffin.
Ich finde die Taschenlampe. Der Strahl fährt wirr über Scherben, über einen Paraffinfleck. Isaak drängt sich gegen meine Koje. Mit hervortretenden Augen verfolgt er etwas, das hinter dem Türrahmen aus dem Blickfeld verschwindet.
Keuchend befreie ich mich aus dem Schlafsack. Die Taschenlampe entgleitet mir, fällt zu Boden, erlischt flackernd. Wimmernd falle ich auf die Knie und taste danach. Ich kann sie nicht finden. Kann die Hand vor Augen nicht sehen. Isaak tut mir so leid. Er ist verschwunden. Ich versuche, ihn zu rufen, doch mir ist die Kehle zugeschnürt. Heftiger Schmerz durchzuckt Hände und Knie. Ich krieche über Glasscherben. Meine Finger streifen Holz. Die Wand? Die Koje? Wo bin ich?
Schritte. Schwer. Nass. Hinter oder vor mir? Wohin? Wohin?
Ich spüre, wie sein Zorn nach mir ausschlägt. Mir die Luft zum Atmen nimmt.
Isaak winselt kläglich. Ich erhebe mich und stolpere auf das Geräusch zu. Ich krache gegen etwas Hartes, verbrenne mir die Finger an heißem Metall und stürze. Und immer noch diese schweren, nassen, schlurfenden Schritte.
Keuchend krieche ich vorwärts. Ich spüre, wie es um mich weiter wird. Ich sehe einen schwachen roten Schimmer. Der Ofen. Gott im Himmel, ich bin in die falsche Richtung gekrochen. Ich bin nicht in der Schlafkammer, ich bin im Hauptraum. Es gibt kein Entkommen.
In die Ecke getrieben, fahre ich herum. Die Ofenklappe steht offen. Ich sehe die Glut schimmern. Sie wirft kein Licht, vertieft nur die Finsternis. Ich kann nichts sehen, aber ich spüre den Zorn. Ganz nahe. Es kommt mich holen.
Ich stehe taumelnd auf und stolpere am Ofen vorbei in die Schlafkammer. Noch dunkler. Langsam taste ich mich an den Kojen vorbei. Ich trage nur Strümpfe und rutsche aus, taumle gegen die Packkisten. Der tragbare Ofen fällt krachend zu Boden. Ich finde keinen Weg an den Kisten vorbei. Finde den Flur nicht. Stolpere gegen etwas Klammes und Kaltes, etwas, das unter meinen Fingern nachgibt wie vermodertes Schafsfell. Vor Grauen schnürt sich meine Brust zu. Ich kann mich nicht bewegen. Mein Verstand setzt aus. Ich kann es nicht ertragen. Der Zorn, die Bosheit, ich kann nicht …
Isaak scharrt verzweifelt an der Türe. Ich werfe mich dem Geräusch entgegen. Ich schabe mir an dem Holz die Knöchel auf. Die Türe. Die Türe. Isaak schießt an mir vorbei. Ich bin im Flur. Kälter. Dunkelheit drückt gegen meine Augäpfel. Glasklar bin ich mir der Luke über meinem Kopf und des darüberliegenden Dachraums bewusst. Ich taste mich vorwärts. Gewehre. Haken. Ölzeug. Kalte, steife Ärmel streifen mein Gesicht. Meine Füße verheddern sich in Hundegeschirren.
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