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Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Titel: Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marías
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böswilligsten Absicht geschrieben hat, wie der stets ausgewogene und objektive Thomas nicht aufzuzeigen unterläßt: »Er kann unmöglich geglaubt haben, was er schrieb.« Der Text dieses »Liebhabers der Wahrheit« paßte gut zu dem Plakat oder der Zeichnung, die Orwell und anderen zufolge im Frühjahr 1937 in großen Mengen in Madrid und Barcelona zirkulierte und die POUM darstellte, wie sie sich eine Maske mit Hammer und Sichel abnimmt und ein Gesicht entblößt, das von einem Hakenkreuz durchzogen ist. Mein Vater hatte nicht übertrieben, als er von Schamlosigkeit sprach.
    In diesem Moment bemerkte ich, daß Wheeler in seinen sehr vollen Regalen auch die sechs gebundenen Bände der Sammlung einzelner Hefte bewahrte, die die Zeitung Abc von 1978 bis 1980, das heißt, drei bis fünf Jahre nach Francos Tod, unter dem Titel Doppeltes Tagebuch des Bürgerkriegs 1936–1939 herausgebracht hatte. Zuvor wäre eine derartige Initiative undenkbar gewesen: eine zweifarbige Faksimile-Wiedergabe ganzer Seiten, Kolumnen, Leitartikel, Nachrichten, Interviews, Anzeigen, Gesellschaftsnachrichten, Artikel, Kommentare, Chroniken der beiden Abc , die während des Krieges existierten: der republikanischen in Madrid und der franquistischen in Sevilla, im Schatten der jeweiligen Mächte, in deren Hand die eine und die andere Stadt zu Beginn des Konflikts geblieben waren. Das von der Madrider Ausgabe Veröffentlichte erschien in roter Schrift und in blaugrauer das der Sevillanischen, so daß sich die Sicht oder Ansicht derselben Ereignisse – tatsächlich wirkten sie nie wie dieselben – je nach der Presse beider Lager einfach verfolgen ließ. Mich reizte es, die entsprechenden Veröffentlichungen zu jenem Frühjahr 1937 zu suchen, obwohl die Ereignisse im Zusammenhang mit der POUM hauptsächlich in Barcelona stattgefunden hatten. Schon etwas müde und hastig, fand ich nicht viel beim ersten Durchblättern. Doch eine dieser wenigen Nachrichten veranlaßte mich, die großen Bände einen Augenblick lang beiseite zu legen – ein Buch führt immer zu einem anderen und noch einem anderen, und alle sprechen sie, die Neugier ist ungesund, nicht so sehr aus den gemeinhin bekannten Gründen, als wegen der Erschöpfung, zu der sie führt – und mich unsinnigerweise nach Ian Fleming zu fragen, dem Schöpfer von Agent 007 und Autor der James-Bond-Romane. Die betreffende Notiz gehörte zur Madrider Ausgabe der Abc vom 18. Juni 1937 und war sicher nur zweitrangig für die Zeitung, denn sie nahm nur eine halbe Spalte ein. Ihr Titel lautete: »Verhaftung mehrerer Mitglieder der POUM«. Ich las sie rasch, und dann warf ich ohne jede Rücksicht mehrere Bücher auf den Boden und räumte den Tisch so weit frei, daß ich eine alte elektrische Schreibmaschine auf ihn stellen konnte, die ich unter ihrer Hülle in einem Winkel erblickt hatte, und schrieb mit ihr die ganze Nachricht ab. Ich wollte lieber nicht daran denken, daß Wheeler oder Frau Berry aufwachen und herunterkommen und entdecken könnten, in was für ein Chaos ich das so ordentliche und saubere Arbeitszimmer verwandelt hatte, noch dazu in so kurzer Zeit, die soviel Unheil schwerlich erklären konnte: Dutzende von Bänden aus den Regalen gerissen, aufgeschlagen und über den Boden verstreut und sogar respektlos Platz beanspruchend auf Wheelers beiden dekorativen Stehpulten mit ihrem Wörterbuch und ihrem Atlas und ihren jeweiligen Lupen; die Pralinen- und Trüffelpackungen wild durcheinander, mit den daraus folgenden, unvermeidlichen Schokoladekrümeln und -flecken auf nicht wenigen Blättern, wie ich konsterniert feststellte; Whiskyglas und -flasche und eine Dose Coca-Cola, die ich mir aus dem Kühlschrank geholt hatte, um beide Getränke miteinander zu mischen, und ein Behälter mit halb aufgelösten Eiswürfeln, ein Tropfen oder zwei oder drei vergossen und sichere Kreise auf dem Holz, ich war nicht auf die Idee gekommen, Untersetzer zu nehmen; mein Aschenbecher und der von Peter voll und wer weiß, ob irgendein häßlicher, gelblicher Nikotinfleck an einem auffälligen Ort, ob von mir unbemerkte Brandlöcher auf entscheidenden Seiten; meine Zigaretten und mein Feuerzeug und meine Streichhölzer und eine Patrone meines Füllfederhalters, die irgendwo herumfuhren oder vergraben waren, vielleicht ein Tintenklecks, der entstanden war, als ich die Patrone wechselte; jetzt eine abgedeckte Schreibmaschine und vollgekritzelte oder -geschriebene Papiere und Seiten, in englisch oder in

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