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Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Titel: Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marías
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nicht, wie man sieht), aus Furcht vor der Wut, die ihre ineffiziente Überredungsgabe wahrscheinlich bei Jeschow, ihrem Vorgesetzten in Moskau und obersten Chef des NKWD, auslösen würde, vorschlugen, »einen Naziangriff zur Befreiung von Nin« zu inszenieren und sich auf diese pittoreske Weise das lästige Entführungsopfer vom Hals zu schaffen, das mit Sicherheit zu gebrochen und übel zugerichtet war, um es irgendeinem Licht oder wenigstens einem Halbdunkel oder vielleicht auch nur einer Finsternis zurückzugeben. »Und so kam es, daß in einer dunklen Nacht«, berichtete Thomas, als wäre es das Rauschen des Flusses und der Verbindungsfaden, »wahrscheinlich am 22. oder 23. Juni, zehn deutsche Angehörige der Internationalen Brigaden das Haus in Alcalá überfielen, in dem Nin festgehalten wurde. Sie sprachen demonstrativ deutsch während des fingierten Überfalls und ließen einige deutsche Eisenbahnfahrkarten am Ort zurück. Nin wurde mitgenommen und umgebracht, vielleicht in El Pardo, dem königlichen Park im Norden Madrids.« Benet sagte seinerseits – noch flußhafter oder vermischter mit dem Fluß oder es war ein dichterer Verbindungsfaden, vielleicht weil er in meiner eigenen Sprache zu mir sprach –, daß Orlow Nin »im Keller einer Kaserne in Alcalá de Henares (eingeschlossen hatte), um ihn persönlich zu verhören«. (Es ist anzunehmen, daß in diesem Keller, Haus, Kasernengebäude, Hotel oder Gefängnis – merkwürdig, wie die Historiker sich nicht über den Charakter des Ortes einigen konnten – während der Sitzungen russisch gesprochen wurde, das der Verhörte – Tolstoi, Tschechow, Dostojewski – sicher besser kannte als sein Verhörer das Spanische.) Nin »versetzte ihn dermaßen in Wut, daß Orlow entschied, ihn aus Angst vor den Repressalien seines Vorgesetzten in Moskau, Jeschow, zu liquidieren. Ihm fiel nichts anderes ein, als sich eine Befreiungsaktion auszudenken, durchgeführt von einem angeblichen Nazi-Kommando aus Deutschen der Brigaden, das ihn in einer Madrider Vorstadt liquidierte und ihn wahrscheinlich in einem kleinen inneren Garten des Palasts von El Pardo verscharrte«. Und Benet, der die böse Ironie nicht übersehen konnte, fügte im Hinblick auf die Tatsache hinzu, daß dieser Palast sich in die offizielle Residenz Francos während seiner sechsunddreißigjährigen Diktatur verwandeln sollte: »(Der Leser möge über das Schicksal einiger Knochen nachsinnen, deren Ruhe durch die Schritte jenes anderen entschiedenen Antistalinisten aufgestört wurde, der in Augenblicken der Muße dort spazierenging.)« Und weiter: »Als unterlägen sie einem Fluch – dem Schweigen Nins –, sollten Orlows Jungs in den folgenden Wochen mit einem Genickschuß oder einem ganzen Magazin Kugeln im Bauch in den Madrider Straßengräben auftauchen.« Vielleicht traf das auf Bielow zu, aber nicht auf Vidali oder Contreras (oder Sormenti in den Vereinigten Staaten), der lange Zeit Anführer der Kommunisten in Triest war, auch nicht auf Orlow selbst, der bereits 1938, als er den Befehl erhielt, Spanien zu verlassen und nach Moskau zurückzukehren, sich keinen Illusionen über das Schicksal hingab, das dort auf ihn wartete, und inkognito auf einem Schiff abreiste, um später in Kanada aufzutauchen und dann viele Jahre lang eine geheime Existenz als ehrbarer Bürger der Vereinigten Staaten zu führen, wo er schließlich 1953 ein Buch veröffentlichte, The Secret History of Stalin’s Crimes (natürlich ohne sich sonderlich mit einzubeziehen), und das eine oder andere Mal dem FBI bei schwierigen Fällen von »Spionage« zur Hand ging, wie dem Fall der Brüder Soble oder dem von Marc Zbrowsky: was lernt man nicht für unnötige Dinge in unvorhergesehenen Studiennächten. Das veranlaßte, nebenbei gesagt, irgendeinen eher schlichten, rabiaten und frivolen Exegeten – ich weiß nicht mehr, wer es war, die Bände wuchsen weiter in die Höhe, ich holte mir ein paar Pralinen und Trüffel, ich schenkte mir ein Glas ein, auf Wheelers Westregal ging alles drunter und drüber, und sein Tisch bot einen scheußlichen Anblick – zu der Schlußfolgerung, daß Major Orlow von Anfang an ein Spitzel der Amerikaner gewesen sei und daß die meisten Leute, die er in Spanien als »Angehörige der fünften Kolonne« hinrichten ließ, in Wirklichkeit reine, loyale Rote waren, Opfer von Roosevelt und nicht von Stalin. Es besteht kein Zweifel, daß der Manichäer recht hatte in bezug auf Nin, wenn auch nicht

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