Dein ist die Rache. McAvoys zweiter Fall: Ein Yorkshire-Krimi (Ein Aector-McAvoy-Krimi) (German Edition)
wurde.
»Ich denke, es gibt offene Fragen«, antwortet er und hofft, dass sie es dabei belassen wird. Ewig plagt ihn dieses Gefühl von Schuld und Unzulänglichkeit. Er weiß nicht, wer oder wie er sein soll. Während er hier sitzt, in diesem winzigen Reihenhaus mit dem ungemähten Rasen und der altmodischen Tapete, den unpersönlichen Kunstdrucken und der halbherzigen Ordentlichkeit, hat er nicht das Gefühl, es verdient zu haben, so warmherzig behandelt zu werden. Er fürchtet, dass er die Frau letzten Endes zum Weinen bringen wird. Er ist darauf angewiesen, ihre Ängste und Zweifel zu schüren. Will, dass sie ihn auffordert, sich in die Sache zu verbeißen, bis er Antworten findet. Braucht das Gefühl, dass er aus einem edleren Grund im Ableben ihres Neffen herumstochert als makabrer Neugier.
Er sieht sie an. Nickt ihr zu, um zu sagen, dass der Tee wunderbar sei, und prägt sich ihr Bild ein.
Vor zwanzig Jahren und fünftausend Cheeseburgern war Carrie Ford vermutlich sehr hübsch. Unter einer mächtigen Fettschicht erkennt McAvoy immer noch die einstmals gertenschlanke und elegante Figur. Ihre grünen Augen und das bereitwillige Lächeln sind Anachronismen in einem teigigen Gesicht ohne Make-up, das auf einem ungepflegten, plumpen Körper sitzt.
Sie trägt ihre Supermarktuniform. Weißes Polyesterkleid mit grünem Kittel, verborgen unter einer Jeansjacke in Maxigröße. Man sieht ihr das Alter an. Sie wirkt, als hätten sechs Monate Trauer die Falten eines ganzen Lebens in ihre Haut eingegraben.
Sie war gerade auf dem Weg zur Arbeit gewesen, als er an die mattierte Scheibe ihrer Tür klopfte.
»Ich dachte, Sie wären das Taxi«, wiederholt sie, während sie McAvoy eine zweite Tasse Tee einschenkt. Dann, zum dritten Mal: »Die Arbeit kann warten, nicht wahr?«
Sie ist eine nette Frau. Sie lebt allein hier in der Doppelhaushälfte mit zwei Schlafzimmern, nur einen Spaziergang von der Arbeit entfernt und wenige Minuten von dem Ort, an dem ihr Neffe mit hervorquellenden Augen hilflos auf einem blauen Teppichboden gestorben ist.
»Das ist unser Simon«, sagt sie mit einer Geste zum Kaminsims.
Ein halbes Dutzend Postkarten, Bilderrahmen und Nippes stehen da, daher weiß McAvoy nicht, wen sie meint. Sie tritt an den Kamin. Greift nach einem billig gerahmten Foto. Reicht es McAvoy mit einem Lächeln.
»Das ist aus dem Kurs. Unserem Kurs. Line-Dance. Sehen Sie sein Lächeln? Da war er immer am glücklichsten. Auf der Bühne. Wenn er anderen beim Lernen helfen konnte. Sein Enthusiasmus war so ansteckend.«
Das Licht ist schlecht, und McAvoy muss das Bild so halten, als wollte er mit dem Glas einen Schatten an die Decke werfen. Aus zusammengekniffenen Augen betrachtet er die Fotografie eines schlanken, dunkelhaarigen Burschen. Er lächelt breit in die Kamera, und auch wenn das Bild ihm nicht direkt schmeichelt, strahlt es Freude aus. Simons Haare sind schweißnass vor Anstrengung und fallen ihm in die Augen, und auch Hals und Brust über einem ärmellosen, am Kragen provokativ geschlitzten Sweatshirt glänzen von Schweiß. McAvoy verändert den Blickwinkel. Sieht sein eigenes Spiegelbild im Glas. Kippt es schnell weg.
»Und es gab keinerlei Warnzeichen?«, fragt er. »Sie hatten nie das Gefühl, dass er unter Depressionen litt?«
Mrs Ford lässt sich in ihren hochlehnigen Sessel sinken.
McAvoy sitzt in der hinteren Ecke des dazupassenden Zweisitzersofas und wünscht, er hätte ihr Angebot angenommen, den Mantel abzulegen. Ihm ist heiß, und seine feuchten Kleider dampfen in der Wärme des dreistrahligen Elektroheizers, den sie instinktiv aufgedreht hat, als sie ihn in ihr winziges Wohnzimmer bat.
»Er hatte seine Höhen und Tiefen«, sagt sie und richtet den Blick auf das Bild in McAvoys Hand. Wortlos reicht er es ihr und ist berührt von der Zärtlichkeit, mit der sie das Foto betrachtet.
»Bei der Anhörung kamen Schwierigkeiten mit seinem Vater zur Sprache. Wegen seiner sexuellen Orientierung …«
Mrs Ford verzieht das Gesicht. Drückt die Fotografie an die Brust. »Der einzige Mensch, der mit seiner sexuellen Orientierung Probleme hatte, war sein Dad«, meint sie. »Mein Bruder, müssen Sie wissen. War schon immer ein Arschloch.«
»Als Kind hatte Simon nicht viel mit ihm zu tun?«
»Mit keinem von beiden. Weder Mum noch Dad.«
»Das muss schwer gewesen sein«, sagt er. »Niemanden zu haben, mit dem man reden kann …«
Mrs Ford winkt geringschätzig ab. »Simon wusste schon als Kind, was er
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