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Deine Seele in mir /

Deine Seele in mir /

Titel: Deine Seele in mir / Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanna Ernst
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ich selbst nicht, doch Kristin und Tom sehen ebenso gebannt auf Julie wie ich.
    »Zum Klavier«, erklärt mein Patient recht nüchtern. »Sie spielt sehr gerne.«
    Ich spüre das Entgleisen meines Gesichtsausdruckes, als seine Worte mich erreichen. »Julie spielt Klavier?«
    Die Fassungslosigkeit, die in meiner Frage deutlich mitschwingt, ist mir nur einen Moment später schon peinlich, doch ein weiterer Blick auf das mechanisch laufende Wesen vor uns lässt mich stark an Toms Behauptung zweifeln. Julies Augen sind starr geradeaus gerichtet; sie scheint durch alles hindurchzuschauen, was wir anderen in diesem Raum sehen.
    »Sie spielt sogar phantastisch«, bestätigt Kristin.
    »Die Ärzte sind der Auffassung, Julie gehört zu den Savants«, fügt Tom hinzu.
    »Savants?«, wiederhole ich monoton, den Blick nach wie vor auf Julie, die in diesem Moment den Schemel nach hinten schiebt und darauf Platz nimmt.
    Nun ist auch Toms Stimme kaum mehr als ein Flüstern: »Ja, Savants – die Wissenden! So nennt man Hochbegabte, die einzelne, sehr stark ausgeprägte Fähigkeiten besitzen, ohne dass man sie ihnen beigebracht hat. Daher auch der Name, denn sie wissen scheinbar, ohne zu lernen. Oft haben diese Menschen starke Handicaps im gewöhnlichen Alltag, sind aber auf speziellen Gebieten nahezu genial. Kennen Sie
Rainman
, den Film mit Dustin Hoffman?«
    Ich nicke.
    »Er hat einen Savant gespielt. Hoffnungslos pflegebedürftig einerseits, Genie andererseits. Julie war gerade drei Jahre alt, als sie sich zum ersten Mal an ein Klavier gesetzt hat. Sie begann zu spielen, als hätte sie nie etwas anderes gemacht. Wir konnten es nicht fassen. Ihre Händchen waren noch so winzig – sie erreichte die Tasten kaum. Es war wie ein Wunder.«
    Der Stolz in seiner Stimme ist nicht zu überhören.
    Gerne würde ich an sein Wunder glauben, doch Julies Hände liegen schlaff in ihrem Schoß, sie rührt keinen Finger.
    Ich blicke zu Tom und von ihm zu Kristin. Die beiden scheinen mich ausgeblendet zu haben. Erwartungsvoll schauen sie auf ihre Tochter. Plötzlich wird mir klar, dass sie Momenten wie diesen wohl entgegenfiebern. Sie bilden die Höhepunkte im Alltag mit Julie. Denn wenn sie nicht so spricht, dass man sie versteht, dann ist das Klavier vielleicht etwas wie ihre Stimme. Ein Ventil, über das sie sich mitteilt. Verständlich, dass sich ihre Eltern danach sehnen.
    Ich stecke mitten in meinen Gedanken, als mich eine neue Bewegung aufschrecken lässt.
    Julies Finger finden ihre Positionen auf den schwarz-weißen Tasten ohne das geringste Zögern, sicher und bestimmt.
    Sie beginnt zu spielen, und sofort rinnt ein frostiger Schauder meinen Rücken hinab. Oh, mein Gott!, denke ich.
    »Dieses Lied spielt sie am liebsten«, flüstert Kristin mir zu, doch ich schaffe es nicht einmal zu nicken, geschweige denn, etwas zu erwidern.
    Wie angewurzelt stehe ich da und lausche Julies sanftem Spiel. Die Melodie klingt zart und unschuldig – und sehr vertraut, auch für mich.
    Ausgerechnet dieses Lied!
    Schmerzhaft zieht sich mein Magen zusammen, und die Härchen an meinen Armen stellen sich auf. Meine Hände zittern.
    Als ich es endlich bemerke, lasse ich sie in meinen Hosentaschen verschwinden.
    Zu gerne würde ich in diese junge Frau hineinblicken können. Eine Seele, die solch gefühlvolle Klänge erzeugen kann, muss wunderschön sein. Julies Spiel ist perfekt. Es steckt so voller Hingabe, dass sich ein dicker, bittersüßer Kloß in meinem Hals bildet.
    Der letzte Akkord verklingt in der Weite des Raumes. Julies Finger lösen sich von den Tasten, sofort fällt sie in ihr monotones Schaukeln zurück. Als hätte mich jemand gekniffen, schrecke ich aus meiner Versunkenheit.
    »Wow«, ist das Erste, was über meine Lippen kommt.
    Kristin und auch Tom strahlen stolz über das ganze Gesicht.
    Ich bewundere die beiden für all ihre Geduld, Liebe und Aufopferung, die sie Julie entgegenbringen.
    »Sie ist wirklich brillant.«
    »Ja, das ist sie.« Tom nickt. Wohl zu heftig, denn sein Lächeln bröckelt, und sein Gesicht verzieht sich gequält. »Allerdings ist Ihr Plan deutlich weniger brillant, Mr Andrews. Muss ich Sie wirklich in die Praxis begleiten?«
    »Sie müssen nicht, Tom, aber ich rate es Ihnen.«
    Kristin schüttelt den Kopf. »Komm schon, Schatz. Es ist doch sehr nett von Mr Andrews, dich mitzunehmen. Ich hole deine Sachen.« Tom seufzt und verdreht die Augen, doch dann gibt er sich geschlagen und dreht mir den Rücken zu, um sich

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