Deine Seele in mir /
haften, die nach wie vor auf dem Holzboden vor dem Kamin sitzt und sich in ihrem eigenen Rhythmus hin- und herwiegt.
»Können Sie Julie für die kommende Zeit nicht ein Bett im Erdgeschoss machen?«
Meine Frage scheint so naiv zu sein, dass sie mir ein nachsichtiges Lächeln von Kristin beschert.
Auch Tom, der sich über die geschlossenen Augen reibt, stößt etwas Luft aus. Es klingt bitter.
»Nein, das können wir leider nicht«, erklärt Kristin mir ruhig. »Autisten sind in ihren Gewohnheiten oft extrem festgefahren, wissen Sie? Wenn wir Julies Bett woanders aufstellen würden, könnte sie unter Umständen nächtelang gar nicht mehr schlafen. Es wäre auch denkbar, dass sie in schwere Schreikrämpfe verfällt, denn dafür ist sie anfällig.«
»Oh, okay«, erwidere ich und komme mir reichlich dämlich vor. »Daher auch diese Routine, von der Sie sprachen?«
Einvernehmliches Nicken.
Wohl wissend, dass dieser stille Moment zwischen uns nur eine letzte Verzögerung auf dem Weg zum Unausweichlichen ist, sehe ich die beiden an. Sie wirken erschöpft.
Auf keinen Fall werde ich diese reizenden Menschen in ihrer misslichen Lage allein lassen. Noch einmal atme ich tief durch, bevor ich meinen Beschluss verkünde.
»Bis Tom wieder gesund ist, komme ich zweimal am Tag und helfe Ihnen, Kristin. Ich kann Julie morgens die Treppe runtertragen und abends wieder hoch, wenn das für ihren geregelten Tagesablauf wichtig ist. Wäre das eine kleine Hilfe?«
Kristin starrt erst mich und dann ihren Mann an. Der erwidert ihren Blick, schüttelt nach ein paar Sekunden jedoch den Kopf. »Das ist wirklich nett von Ihnen, Andrews, aber das können wir uns nicht leisten. Leider.«
»Oh nein, nicht doch«, wehre ich schnell ab. »Mein Weg zur Praxis führt mich sowieso hier vorbei, und so kann ich auch nach Ihnen sehen, Tom. Ich will kein Geld! Ich würde Ihnen einfach gerne helfen. Vorausgesetzt, es ist Ihnen recht, natürlich.«
Tom schaut fassungslos zu mir auf, dann lacht er. »Andrews, so sozial, wie Sie sind, werden Sie sich wohl nie eine goldene Nase verdienen.«
Ja, das ist wohl wahr, aber … »Na, wie gut, dass ich mir nicht vorgenommen habe, möglichst reich zu sterben«, erwidere ich verlegen.
Wohin auch mit dem Reichtum? Du bist allein!, hetzt eine ketzerische Stimme in mir.
»Also, nehmen Sie mein Angebot an? So abseits, wie Sie hier wohnen, sehe ich eigentlich keine andere Lösung, und ich würde es wirklich sehr gern tun.«
Noch ein flüchtiger Blick zu ihrem Mann, dann kennt Kristin kein Halten mehr. »Das ist furchtbar nett von Ihnen, Mr Andrews«, ruft sie überwältigt und fliegt mir förmlich in die Arme. Ich muss mich zusammenreißen, um auf diese plötzliche und unerwartete Nähe nicht mit abrupter Ablehnung zu reagieren. Irgendwie schaffe ich es jedoch tatsächlich, mich unter Kristins Umarmung ein wenig zu entspannen, und lege schließlich sogar einen Arm um sie.
Als sie zurückweicht, hat sich ihr Blick gewandelt. Was eben noch als höflich oder maximal als herzlich zu bezeichnen war, wirkt nun nahezu liebevoll.
Die Botschaft in Kristins Augen ist eindeutig. Für sie bin ich ab sofort nicht mehr nur der Physiotherapeut ihres Mannes.
Nun bin ich ein Freund. Der Freund, der ihr in den kommenden Wochen mit ihrer Tochter helfen wird. Kristins Lächeln ist so dankbar, so warm und offen, dass ich vor Verlegenheit den Blick abwende.
Noch immer außerstande, angemessen auf ehrliche Zuneigung zu reagieren, streiche ich mir die Haare aus der Stirn und grinse sekundenlang beschämt das Parkett an. Wie ein Volltrottel, denke ich.
Als ich es endlich fertigbringe, meinen Blick zurück zu Kristins Gesicht zu lenken, erkenne ich in ihren Augen, dass ihr zum ersten Mal die verblasste Narbe auffällt, die sich von dem Haaransatz meiner rechten Schläfe bis über meine Augenbraue zieht. Schnell lasse ich die Haare zurück in meine Stirn fallen und stecke die Hände in meine Hosentaschen.
»Nennen Sie mich nicht mehr bei meinem Nachnamen, Kristin. Ich heiße Matt.«
[home]
II. Kapitel
N och in derselben Nacht finde ich mich an meinem Laptop wieder. Im Internet stoße ich auf diverse Fachliteratur über den Autismus. Ich erfahre, dass es die unterschiedlichsten Ausprägungen gibt und dass Julie an einer besonders starken Form dieser Krankheit zu leiden scheint.
Ich kann nicht schlafen. Sie geht mir nicht aus dem Kopf – wie sie dasaß, direkt vor meinen Füßen und doch überhaupt nicht da war. Irgendetwas
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