Deine Seele in mir /
muss sie doch mitkriegen, wenn sie so Klavier spielen kann, oder? Woher nimmt sie diese Gabe?
Ernüchtert stelle ich fest, dass nicht einer der Berichte, die ich finde, plausibel erklärt, woher diese sogenannten Savants ihr unglaubliches Können nehmen.
Ein ungeklärtes Phänomen
, heißt es immer wieder, oder auch
noch nicht vollständig erforscht
.
Julie scheint jedenfalls nicht in eine der klassischen Formen des Autismus zu passen.
Man unterscheidet zwischen dem Frühkindlichen Autismus, bei dem bereits Babys vor der Vollendung ihres ersten Lebensjahres auffällig werden, und dem sogenannten Asperger-Syndrom, welches sich meist erst nach dem dritten Lebensjahr bemerkbar macht und im Vergleich zu der frühkindlichen Form viel schwächer ausfällt.
Bei Julie wurde sehr früh diagnostiziert, das hatte mir Tom auf dem Weg zur Praxis erzählt. Bei dem Frühkindlichen Autismus ist meist eine schwere geistige Behinderung zu verzeichnen. Die Betroffenen lernen oft niemals, richtig zu sprechen oder sich normal zu bewegen. Julie jedoch spricht und läuft völlig normal. Sie geht zwar nur, wohin sie will, und spricht in Wortfetzen, deren Bedeutung selbst ihren Eltern verborgen bleibt, aber immerhin besitzt sie die voll ausgeprägten Fähigkeiten, korrekt zu sprechen und sich fortzubewegen. Und das, obwohl sie unter einer frühkindlichen Variante des Autismus leidet.
Keines dieser relativ simplen Raster, auf die ich bei meinen Recherchen immer wieder stoße, scheint Julies Fall richtig zu beschreiben. Nach etlichen Stunden beschließe ich, Kristin und Tom all meine Fragen zu stellen. Julie ist einundzwanzig Jahre alt, und ihre Eltern beschäftigen sich fast genauso lange schon intensiv mit ihrer Krankheit. Ich sitze also direkt an der Quelle, und die medizinischen Fachausdrücke, von denen all diese Internetseiten nur so strotzen, verstehe ich größtenteils sowieso nicht.
Meine Füße sind schon steif vor Kälte, als ich den Laptop endlich zur Seite lege, die Stehleuchte hinter meiner Couch ausknipse und mich zurück in mein warmes Bett begebe. So schwer die Müdigkeit auch auf mir lastet, ich finde keine Ruhe.
Waren es zuvor noch Bilder von Julie gewesen, so taucht jetzt immer wieder ein anderes Gesicht vor meinem geistigen Auge auf und macht es mir schlichtweg unmöglich, in den Schlaf zu finden.
Amy.
Warum hatte Julie ausgerechnet dieses Lied spielen müssen? Ich weiß nicht einmal, wie es heißt, aber für mich wird es immer Amys Lied bleiben.
Wie oft hatte sie es mir vorgespielt, weil ich es so sehr mochte? Ihre Finger hatten die Tasten zwar nicht so perfekt angeschlagen wie Julies heute, aber auch Amy war damals für ihr Alter sehr begabt gewesen, und ihr Spiel hatte mich stets fasziniert.
Überhaupt bestimmte sie den Dreh- und Angelpunkt meines damaligen Lebens, denn jeder Tag stand und fiel mit ihrer Nähe.
Nun sehe ich sie wieder deutlich vor mir, wie sie an ihrem Klavier sitzt und spielt.
Ihr Lachen, ihre fröhlichen blauen Augen, die vor Lebenslust nur so blitzen, ihre Sommersprossen, die langen blonden Zöpfe.
Sie ist wieder da, und für einige Sekunden lasse ich mich hinreißen und gebe mich den Erinnerungen an sie und unsere gemeinsame Kindheit hin. Doch wie immer, wenn ich mir das gestatte, beginnt mein Herz bereits nach kurzer Zeit so sehr zu rasen, dass es bald schon schmerzt. Ein starker Druck in meiner Brust verwehrt mir die Luft zum Atmen.
Werde ich wohl jemals über diesen Punkt hinwegkommen?
Noch bevor mich die letzten Erinnerungen einholen, die ich von Amy habe, erfasst mich die Panik. Mit zittrigen Fingern taste ich nach meiner Nachttischlampe und schalte sie an.
Im Hellen verschwinden all die Bilder schlagartig; die Schatten, die in meiner Vorstellung nach mir greifen, lösen sich auf, und mein Atem gewinnt an Tiefe. Ich drehe mich auf die Seite und schaue direkt in das gelbliche Licht der kleinen Lampe. Die Glühbirne flackert. Sie ist bereits altersschwach. Eine Ersatzbirne liegt griffbereit in der obersten Schublade meines Nachtschrankes.
Bitter stoße ich ein wenig Luft aus, als mir wieder einmal bewusst wird, wie es um mich steht. Es ist kein wirkliches Lächeln, nicht mal der Ansatz davon.
Was ist auch lustig daran, wenn ein gestandener, dreißigjähriger Mann noch ein Nachtlicht als Einschlafhilfe braucht? Das ist extrem albern und über alle Maßen kläglich.
Oder ist es etwa normal, dass ich mir bis jetzt keine Filme ansehen kann, in denen Menschen Leid irgendeiner Art
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