Delfinarium: Roman (German Edition)
jetzt bloß so, oder?«
»Das Kind ist tot auf die Welt gekommen, ein Junge«, sagt sie.
»Es gibt gar kein Kind?«
»Es gab eins, aber es ist tot, verstehst du? Jetzt gibt es kein Kind mehr.«
»Aber Henry hat von diesem Kind erzählt.«
»Er hat gelogen. Er hat sich vermutlich selbst angelogen, er hat sich etwas vorgemacht, sich an seine Wahrheit geklammert.«
»Aber die Fotos«, sage ich. »Da stehen Fotos von einem Kind in der Wohnung.« Dann fällt mir ein, dass Petra in der Wohnung der beiden gewesen ist, schräg genug.
»Ja, ich weiß«, sagt sie. »Aber das ist nicht ihr Kind, verstehst du, er hat irgendwelche Fotos aufgestellt.«
»Das glaube ich nicht«, sage ich, denn das würde alles verändern. Und dann sage ich gar nichts mehr, was weiß denn ich. Ich schweige. Mir hat es die Sprache verschlagen.
Petra betrachtet mich lange.
Sie sagt: »Vielleicht hatte Susann schon ewig keinen Plan. Vielleicht war das Kind ihr Ausweg. Und dann ist sie nicht über den Verlust hinweggekommen.«
»Hm«, mache ich.
»Und Henry auch nicht«, sagt sie. »Das liegt doch total nah.«
Ich stütze meinen Kopf in die Hände. Ja, es liegt total nah. Und gerade deshalb kann ich nicht daran glauben, es klingt zu einfach. Für mich soll sie immer Marie sein, wenn sie will, und gleichzeitig Susann. Sie soll das als Einzige entscheiden dürfen. Schon als Kind hatte ich kein Interesse daran, von irgendwelchen Schlaubergern über die Nichtexistenz von Weihnachtsmännern und ähnlichen Geheimnisträgern aufgeklärt zu werden. Ich habe ein persönliches Interesse an der Existenz von dunklen Ecken, die sich dem Licht der Vernunft entziehen.
»Und Marie?«, frage ich.
Sie macht: »Pfff! Keine Ahnung.«
Und da ergibt er sich ganz beiläufig für mich, ein Moment perfekter Balance. Wäre ich ein Delfin, wäre dies der Moment, nachdem ich durch den Reifen gesprungen bin: Ich befinde mich in der Luft, mein Leib schillert und glänzt, und das Lächeln steht mir unauslöschlich ins Gesicht geschrieben. Ich lächle, weil ich weiß, dass sie irgendwo dort draußen im Zweifelsfall sie selbst ist, und weil ich weiß, dass auch ich der sein darf, der ich bin.
Ich starre Petra an, während die Scheinwerfer aufblenden. Die Musik wechselt zu Let me entertain you , die Delfintrainerin kommt in die Manege gelaufen.
»Was soll eigentlich aus den Obstbauern werden, wenn du nicht mehr da bist?«, frage ich, weil es mir gerade ziemlich leer im Schutzbündnis vorkommt, wenn sie zurück ins Ausland geht.
»Die müssen sich jetzt selber helfen. Oder du musst für mich einspringen. Gute Idee eigentlich. Vielleicht wäre das ja was für dich.«
»Aus dem Gefängnis, oder was«, sage ich. »Wohl kaum.«
»Du kommst nicht ins Gefängnis.« Sie schaut mich an. »Du weißt, dass ich bald wieder weg bin, ja? Das weißt du?«
»Ja«, sage ich, »klar. Ich ja auch. Ich gehe ja auch bald weg.«
»Hm«, macht Petra, als hätte sie es längst gewusst. »Weißt du schon, wo du hinwillst?«
»Nö«, sage ich.
Ich denke an Henry und wie er in seinem Wohnwartezimmer sitzt und sich an einer Wand aus Bierdosen festhält. Dass es traurig ist, aber dass auch das mich nichts mehr angeht. Ich komme mir dumm vor.
Petra sagt: »Soll ich dir sagen, wie es mit der Landebahngeschichte weitergeht? Ich bin nämlich Prophetin.«
»Ja«, sage ich. »Schieß los.«
»Irgendeiner wird irgendwann verkaufen. Die Stadt wird immer mehr Geld bieten. Und der öffentliche Druck wird immer größer werden, Verräter am Wirtschaftsstandort usw. Und irgendwann ist einer fällig, kippt um und schert aus. Gibt nach und sackt das Geld ein. Und damit ist es dann gelaufen. Dann kaufen sie einen nach dem anderen auf. Und in zwanzig Jahren gibt es hier kein Dorf mehr, irgendwann steht nur noch der Kirchturm wie drüben in Altenwerder. Wetten?«
»Ärgert es dich?«, frage ich.
»Maßlos.« Petra guckt grimmig nach vorne, wo ein Delfin auf die Wasseroberfläche klatscht.
Ich nehme ihre Hand und drücke sie fest. Die Delfine jonglieren jetzt mit den roten Bällen.
»Du bist die Größte«, sage ich leise, so, dass sie es nicht hören kann.
Die Trainerin lässt die Delfine sich im Halbkreis formieren. Ein kleiner Junge aus der Reihe hinter uns wird nach vorne gewunken. Er darf die Tiere dirigieren, damit sie für ihn musizieren. Sie machen auf ein Zeichen der Trainerin hin mit ihren Blaslöchern kreischende Geräusche, der Junge bewegt die Arme dazu.
»He«, sage ich zu Petra, »die
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