Delfinarium: Roman (German Edition)
Anzeige, na und.
Aber sie lassen mich gehen, mein Vater darf mich mit nach Hause nehmen.
Am Wochenende gehe ich in den Gottesdienst, und es ist mir gleich, ob die Leute mich angucken. Ich gehe in die Kirche, weil mein Vater auf der Orgel spielt. Als ich weg war, hat der Pastor ihn gefragt, ob er hin und wieder für den Organisten einspringen will. Mein Vater! Der sonst schon leise stöhnt, wenn er sich die warme Decke aus der Schublade holen muss. Und mein Vater hat zugesagt. Es kommt mir vor, als wäre ich Wochen weg gewesen, nicht nur ein paar Tage. Früher hat er gerne gespielt, aber er tut es schon seit Jahren nicht. Und dass er sich an eine große Kirchenorgel herantraut, an die Arp-Schnitger-Orgel in der Neuenfelder Kirche, das hätte ich nicht für möglich gehalten. Ich hätte jedem einen Vogel gezeigt, hätte man mir das vor zwei Wochen erzählt. Jetzt sitzt er oben auf der Empore, wo ich ihn nicht sehen kann. Ich starre den nackten Arsch vom Dämon auf dem Fresko an, die prallen Hinterbacken vibrieren vor Energie, und ich kann anhand der Musik erkennen, dass mein Vater lebt, dass er gerade mal wieder ankommt in einer Art von Leben, und dass es dazu meiner Abwesenheit bedurfte und dieses Instruments, das seinen Atem in den Menschen dort oben bläst.
Und das macht mich glücklich für einen Moment. Ich sitze in der Kirche, Petra sitzt neben mir, und vorne auf der Kanzel erzählt ihr Vater irgendeine Geschichte.
Nachts mache ich einen Spaziergang mit Susann am Deich entlang. Sie ist wieder da, oder sie ist niemals weg gewesen. Sie steht auf der Kuppe, ich unten im Gras. Plötzlich schiebt sich ein Beluga-Airbus hinter ihr durch den Himmel wie ein mutierter Riesendelfin. Ich stehe unten mit offenem Mund und starre zu Susann empor mit den flammenden Haaren auf dem Deich, vor diesem Monster von Flugzeug, das nach ihrer Wirklichkeit greift. Der Beluga taucht brüllend über sie hinweg, der Lärm versengt mir die Ohren, und es ist, als bekäme durch ihn Susanns Schweigen schärfere Konturen, als ließe sich vor der Matrize der Lautstärke des Flugzeugs die Stille in ihrer ganzen Gestalt und Schönheit begreifen.
Dann wache ich auf und mir laufen die Tränen runter, ob ich will oder nicht. Etwas hat sich in meiner Brust geöffnet und es fließt wie bei einem Staudammbruch in China. Ich liege da und reiße den Mund auf, Wasser fließt mir das Gesicht herunter, macht mein Kopfkissen nass.
Ich sitze am Küchentisch und lese die Zeitung. Auf Seite drei wird berichtet, dass die Kirche ihre Grundstücke, um die es ebenfalls geht, für unverkäuflich erklärt hat, dass sich die Landesbischöfin hinter den Beschluss der Gemeinde stellt und dafür harten Gegenwind von allen Seiten, der Politik und bestimmten Medien, ins Gesicht geblasen bekommt. Ich lese, dass ein Obstbauer trotzdem schon öffentlich darüber spekuliert, was er mit dem vielen Geld für sein zentrales Grundstück anstellen könnte. Ich puste in meinen Kaffee und stelle mir vor, was Petra denkt, wenn sie die Zeitung liest.
Dann gehe ich nach vorne, um nach der Post zu sehen.
Es ist eine Postkarte.
Max schreibt, dass er mir danken möchte, dass ich ihm seine Frau zurückgegeben habe. Es ginge ihnen gut und sie würden beide an mich denken. Ich stehe an den Türrahmen gelehnt und es ist passend, dass dort der Türrahmen ist, denn sonst würde ich glatt umkippen, nach hinten wegsinken oder in mich zusammensacken. Mir wird abwechselnd heiß und kalt, ich merke, dass meine Wangen glühen, und ich hoffe, dass mich keine Polizei heimlich beschattet. Er hoffe, schreibt er, dass sie eines Tages wieder zur Ruhe kommen könnten, noch ginge das natürlich nicht. Dann würden sie sich sicher bei mir melden, ich sei ja so etwas wie ein Pate ihrer Liebe. Und dann sind da noch zwei Worte in einer anderen, einer runden, ruhigen Handschrift unter seine gesetzt. Seine Handschrift besteht aus kleinen, geneigten, gehetzten Buchstabenkolonnen, die Worte am unteren Rand dagegen fließen dahin wie die langen Wogen eines abgeklärten Ozeans. Und es ist sonderbar, als ich die Worte lese, höre ich eine Stimme, eine tiefe, dunkle, etwas raue Frauenstimme, die die Worte synchron zu meinem Lesen ausspricht. Und ich bin sicher, dass es sich um die Stimme von Susann und Marie handelt, die identische Stimme. Und Susann schaut mir geradewegs in die Augen, sie sagt: »Danke, Martin.«
Und ich flüstere: »Daniel.«
Sie lächelt und wiederholt: »Martin.«
Und ich lächle
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