Delfinarium: Roman (German Edition)
»Bei der Geburt unseres Kindes verlor sie das Bewusstsein. Sie war weg, sie ist ins Koma gefallen, aber bloß sieben Minuten.«
»Ah«, sage ich, etwas anderes fällt mir nicht ein. Ich trinke einen kräftigen Schluck Bier.
»Sonst ist sie völlig in Ordnung, sie kann sich anziehen und so. Sie träumt nur ständig vor sich hin. Sie erkennt mich nicht. Und ihn auch nicht. Fast ein halbes Jahr schon, Manuel ist jetzt fünf Monate.«
Henry weist auf ein paar Fotografien, die im Regal stehen, die das Kind zeigen.
Ich schweige, weil ich beim besten Willen nicht weiß, was man in so einem Fall einem Mann mit einem Bierglas in der Hand erwidert. Ich weiß nicht, was ich mit der Information anfangen soll.
»Und da hilft es, wenn man mit ihr in den Zoo geht?«, frage ich.
»Ja«, sagt Henry. »Ins Delfinarium. Da geht sie gerne hin. Es tut ihr offensichtlich gut. Aber ich kann mich nicht die ganze Zeit um sie kümmern, ich muss ja auch arbeiten.«
Wir einigen uns darauf, dass wir es miteinander versuchen wollen, wenn seine Frau positiv auf mich reagiert. Ich soll eine Bezahlung von 15 Euro pro Stunde erhalten, ich würde auch für weniger Geld in den Zoo gehen.
Henry ist schon im Flur, um seine Frau zu holen, als er noch einmal zurück ins Wohnzimmer schaut.
»Moment«, sagt er, »erzähl mir noch etwas über dich, ich weiß gar nichts über dich, ich denke, ich sollte erst etwas besser über dich Bescheid wissen.«
Es scheint ein ziemliches Hin und Her in ihm zu geben. Wir waren nach zwei Sekunden schon beim Du, haben gemeinsam Bier getrunken, haben uns über die Bezahlung geeinigt, und jetzt will er mehr über mich wissen. Er steht an den Türrahmen gelehnt, fasst sich an die Brille, er scheint sich selbst nicht sicher zu sein.
»Was wollen Sie ..., was willst du wissen?«, frage ich.
»Was machst du sonst, warum bist du der Richtige für den Job, was kann sie von dir bekommen, was sie von jemand anderem nicht bekommen kann?«
Ich seufze und sehe mir innerlich noch einmal meinen Notizzettel durch: Schulisches Berufspraktikum, Job in der Brotfabrik, das kann ich vergessen. Als Kind besaß ich ein Aquarium, aber das macht mich sicher nicht zum Fachmann für Sprachlosigkeit im Allgemeinen.
»Ich bin als Kind gerne in den Zoo gegangen«, sage ich. »Meine Lieblingstiere waren die Giraffen, ich hatte eine Jahreskarte, und immer wenn ich vor dem Giraffengehege stand, kam ich mir vor wie in einem surrealistischen Spielfilm. Es konnte diese Tiere nicht geben, ich musste sie träumen, so etwas konnte es nicht in Echt geben, nicht in meiner Stadt, diese sonderbar proportionierten Körper, dieses Muster. Ich saß auf der Bank vorm Gehege und musste mich kneifen, und wenn sie dann noch ihre Zungen, ihre bläulichen Zungen herausfuhren, um sich Blattwerk in den Mund zu ziehen, war es um mich geschehen.«
Henry ist eine Weile still. Dann greift er nach einer der Dosen auf dem Tablett und kippt sich die letzten Tropfen in den Mund. Er sieht mich durch dicke Brillengläser seltsam melancholisch an.
»Kann ich dir vertrauen, Martin?« Er sieht traurig aus, als er es sagt. »Das ist nämlich das Wichtigste für mich.«
Ich sage »Ja« und werde ebenfalls traurig, warum, weiß ich nicht, vielleicht weil es aberwitzig ist, irgendwem oder irgendeinem Ding zu vertrauen. Nichts im Leben ist bis zum Schluss vertrauenswürdig. Man kann nie davon ausgehen, dass man sich auf irgendwen oder irgendetwas restlos verlassen kann. Es geht nicht. Man kann sich nie vorbehaltlos zurücklehnen, und man muss es trotzdem tun, weil man sonst alleine ist oder verrückt wird. Du kannst dich auf nichts verlassen, also fang an damit, in diesem Augenblick. Das habe ich in irgendeinem Buch gelesen.
Vielleicht werde ich auch traurig, weil ...
»Du kannst dich auf mich verlassen«, sage ich, obwohl er Martin die Frage gestellt hat und ich in Wirklichkeit Daniel bin. Ich greife nach meinem Glas, um mich an etwas festzuhalten.
Wir sehen uns an.
Ich bleibe alleine im Wohnzimmer zurück, stehe auf und gehe im Raum umher. Auf dem Klavier liegen Noten, Chopin und Debussy, aber am Staub auf dem Deckel kann ich erkennen, dass schon lange nicht mehr gespielt wurde. Ich stelle mir Henry vor, wie er abends mit einer Dose Bier auf dem Hocker sitzt und einhändig den Flohwalzer übt, die Terrassentür steht weit offen, und ein unbeteiligter Zuschauer kann den Eindruck gewinnen, dass der steinerne Vogel im Garten kurz davor ist, sich ins tiefe Blau des
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