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Delirium

Delirium

Titel: Delirium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lauren Oliver
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verzweifelt. Sie hat gesagt, dass die Regierung sich deshalb nicht die Mühe macht, etwas gegen sie zu unternehmen, noch nicht mal ihre Existenz anerkennt. Sie werden sowieso bald alle aussterben, erfrieren, verhungern oder einfach die Krankheit ihren Lauf nehmen lassen und sich daraufhin gegeneinander wenden, einander bekämpfen und sich gegenseitig die Augen auskratzen.
    Sie hat gesagt, das sei sogar schon passiert – die Wildnis sei inzwischen vielleicht leer und verlassen, dunkel und ausgestorben, es gebe dort nur noch das Rascheln und Wispern der Tiere.
    Wahrscheinlich hat sie Recht mit den anderen Sachen – dass die Invaliden leben wie Tiere –, aber was Letzteres angeht, irrt sie sich offensichtlich. Sie leben und sie sind da draußen und wollen nicht, dass wir das vergessen. Deshalb organisieren sie die Demonstrationen. Deshalb haben sie die Kühe in den Labors freigelassen.
    Erst als ich am East End Beach ankomme, bin ich aufgeregt. Obwohl die Sonne hinter mir sinkt, strahlt sie das Wasser weiß an und bringt alles zum Glitzern. Ich schirme meine Augen gegen das blendende Licht ab und entdecke Alex unten am Wasser, ein langer schwarzer Pinselstrich vor all dem Blau. Der gestrige Abend fällt mir wieder ein, die Finger seiner Hand, die so leicht gegen meinen Rücken drückten, dass es schien, als träumte ich – seine andere Hand, trocken und beruhigend wie ein von der Sonne gewärmtes Stück Holz, hielt meine umfasst. Wir tanzten richtig, so wie die Leute bei ihrer Hochzeit tanzen, nachdem die Beziehung zu ihrem zugeteilten Partner offiziell gemacht wurde, aber irgendwie besser, lockerer und weniger steif.
    Er sitzt mit dem Rücken zu mir, den Blick aufs Meer gerichtet, und ich bin froh darüber. Ich bin verlegen, als ich die morschen, vom Salzwasser verzogenen Stufen hinunterstapfe, die vom Parkplatz zum Strand führen, und bleibe kurz stehen, um meine Schnürsenkel aufzubinden und die Turnschuhe abzustreifen, die ich dann in eine Hand nehme. Der Sand fühlt sich warm unter meinen nackten Füßen an, als ich auf Alex zugehe.
    Ein alter Mann kommt mit einer Angel vom Wasser herauf. Er wirft mir einen misstrauischen Blick zu, dreht sich zu Alex um, sieht wieder mich an und runzelt die Stirn. Ich klappe den Mund auf, um zu sagen: »Er ist geheilt«, aber der Mann grunzt nur etwas im Vorbeigehen und ich kann mir nicht vorstellen, dass er sich die Mühe machen wird, die Aufseher zu rufen, deshalb sage ich nichts. Nicht, dass wir sonst ernsthafte Schwierigkeiten bekämen – das hat Alex gemeint, als er sagte: »Ich bin immun« –, aber ich habe auch keine Lust, eine Menge Fragen zu beantworten und meinen Identitäts-Code durchs SÜS laufen zu lassen und all so was. Außerdem, wenn die Aufseher tatsächlich hierhergerast kämen, um »verdächtiges Verhalten« zu überprüfen, nur um dann festzustellen, dass irgendein Geheilter Mitleid mit einem siebzehnjährigen Nichts hat, wären sie bestimmt sauer – und würden ihren Ärger garantiert an irgendjemandem auslassen.
    Mitleid . Ich schiebe das Wort schnell beiseite, überrascht, wie schwierig es ist, so etwas nur zu denken. Den ganzen Tag lang habe ich versucht, nicht darüber nachzudenken, warum um alles in der Welt Alex so nett zu mir ist. Ich habe mir sogar – eine kurze, dumme Sekunde lang – vorgestellt, dass ich nach meiner Evaluierung vielleicht ihm als Partnerin zugeteilt werde. Diesen Gedanken musste ich auch verscheuchen. Alex hat seine Liste bereits erhalten, seine empfohlenen Treffer – sicher schon vor seinem Eingriff, direkt nach der Evaluierung. Er ist noch nicht verheiratet, weil er noch studiert, das ist alles. Aber sobald er fertig ist, wird er heiraten.
    Dann fange ich natürlich an, über das Mädchen nachzudenken, das ihm zugeteilt wurde – jemand wie Hana, habe ich beschlossen, mit hellblonden Haaren und der lästigen Fähigkeit, sogar das Binden eines Pferdeschwanzes anmutig aussehen zu lassen, als wäre es die Choreografie eines Tanzes.
    Am Strand sind noch vier weitere Leute: eine Mutter mit Kind, etwa dreißig Meter entfernt. Sie sitzt in einem Klappstuhl, dessen Bezug ganz ausgeblichen ist, und starrt ausdruckslos zum Horizont, während das Mädchen – wahrscheinlich nicht älter als drei – in die Wellen watschelt, umkippt, einen Schrei ausstößt (vor Schmerz oder Freude?) und sich

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