Delirium
wieder aufrappelt. Hinter ihnen geht ein Paar spazieren. Der Mann und die Frau berühren sich nicht â und lächeln auch nicht, aber sie wirken ganz ruhig, als wären sie von einer unsichtbaren Schutzblase umgeben.
Dann stehe ich hinter Alex und er dreht sich um, sieht mich und lächelt. Die Sonne fängt sich in seinem Haar, färbt es vorübergehend weiÃ. Dann nimmt es wieder sein normales Goldbraun an.
»Hallo«, sagt er. »Schön, dass du gekommen bist.«
Ich bin wieder schüchtern, komme mir blöd vor, wie ich dastehe, meine abgewetzten Schuhe in einer Hand. Ich spüre, dass meine Wangen heià werden, deshalb senke ich den Blick und lasse meine Schuhe fallen, drehe sie mit dem Zeh einmal im Sand. »Ich hab doch gesagt, dass ich komme, oder?« Die Worte sollten eigentlich nicht so barsch klingen und ich zucke zusammen, verfluche mich in Gedanken. Es ist, als hätte ich einen Filter im Gehirn, der aber nichts verbessert, sondern alles verdreht, und das, was aus meinem Mund kommt, ist vollkommen falsch, vollkommen anders als das, was ich denke.
Glücklicherweise lacht Alex. »Ich meine ja nur, dass du mich letztes Mal versetzt hast«, sagt er. Er macht eine Kopfbewegung auf den Sand hin. »Willst du dich nicht setzen?«
»Klar«, sage ich erleichtert. Ich fühle mich deutlich wohler, sobald wir beide im Sand sitzen. Das macht es weniger wahrscheinlich, dass ich hinfalle oder irgendwas Blödes tue. Ich ziehe die Beine an die Brust und lege mein Kinn auf die Knie. Alex lässt einen guten halben Meter Platz zwischen uns.
Wir sitzen ein paar Minuten lang schweigend da. Erst denke ich hektisch darüber nach, was ich sagen könnte. Jede Sekunde scheint sich unendlich auszudehnen und ich bin ziemlich sicher, dass Alex mich für stumm hält. Aber dann befreit er eine halb vergrabene Muschel aus dem Sand und schleudert sie ins Meer, und mir wird bewusst, dass er sich überhaupt nicht unbehaglich fühlt. Da werde ich lockerer. Ich bin sogar dankbar für das Schweigen.
Manchmal, wenn man Dinge einfach betrachtet, wenn man einfach still dasitzt und die Welt existieren lässt â dann, ich schwöre es, bleibt die Zeit manchmal für einen winzigen Augenblick stehen und die Welt hält in ihrer Drehung inne. Nur einen Augenblick lang. Und wenn es irgendeine Möglichkeit gäbe, in diesem Augenblick zu leben, würde man ewig leben.
»Wir haben Ebbe«, sagt Alex. Er wirft eine weitere Muschel in hohem Bogen hinaus und sie landet genau in der Brandung.
»Ich weiÃ.« Das Meer lässt ein Durcheinander aus matschigem grünen Seetang, Zweigen und krabbelnden Einsiedlerkrebsen hinter sich zurück, und die Luft riecht durchdringend nach Salz und Fisch. Eine Möwe hüpft pickend über den Strand und ich sehe ihre kleinen, tiefen Krallenabdrücke. »Meine Mutter ist immer mit mir hergekommen, als ich klein war. Wir sind ein bisschen rausgelaufen bei Ebbe â so weit es geht jedenfalls. Komisches Zeug, was da so angeschwemmt wird â Pfeilschwanzkrebse, riesige Muscheln und Seeanemonen. Das alles bleibt einfach liegen, wenn sich das Wasser zurückzieht. Sie hat mir hier auch schwimmen beigebracht.« Ich weià nicht, warum die Wörter jetzt aus mir heraussprudeln, warum ich den plötzlichen Drang habe zu reden. »Meine Schwester blieb meistens am Strand und baute Sandburgen und wir spielten, es wären echte Städte, als wären wir den ganzen Weg bis zum anderen Ende der Welt geschwommen, zu den ungeheilten Orten. Nur, dass sie in unserer Vorstellung überhaupt nicht krank oder zerstört oder fürchterlich waren. Sie waren alle schön und friedlich und aus Glas und Licht und so was.«
Alex schweigt weiterhin und zieht mit einem Finger Linien in den Sand. Aber ich merke, dass er mir zuhört.
Die Wörter stolpern weiter: »Ich weià noch, dass meine Mutter mit mir auf der Hüfte im Wasser auf und ab gesprungen ist. Und dann hat sie einmal einfach losgelassen. Ich meine, natürlich nicht wirklich. Ich hatte diese aufblasbaren Dinger an den Armen. Aber ich hab mich so erschrocken, dass ich aus vollem Hals losgebrüllt habe. Ich war erst ein paar Jahre alt, aber ich kann mich noch genau daran erinnern, echt. Ich war dermaÃen erleichtert, als sie mich wieder hochnahm. Aber ⦠aber auch irgendwie enttäuscht. Als hätte ich die Chance auf etwas GroÃartiges
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