Delirium
aufstehen und mir erklären, es sei besser, wenn wir nicht mehr miteinander reden. Es ist komisch. Ich kenne Alex gar nicht mal richtig und zwischen uns gibt es eine unüberbrückbare Kluft, aber der Gedanke regt mich trotzdem auf.
Ich möchte am liebsten aufstehen und wegrennen, damit ich nicht nicken und verständnisvoll tun muss, wenn er sich mir zuwendet und sagt: Hör mal, Lena, tut mir leid, aber â¦, und mir diesen allzu vertrauten Blick zuwirft. (Letztes Jahr lief ein tollwütiger Hund in Munjoy Hill herum, der alle biss und nach jedem schnappte. Er hatte Schaum vor dem Mund, war halb verhungert, räudig, voller Flöhe und ihm fehlte ein Bein, aber trotzdem brauchte es zwei Polizisten, um ihn zu erschieÃen. Eine Menge Schaulustige hatte sich angesammelt und ich war auch da. Ich kam gerade vom Laufen. Zum ersten Mal in meinem Leben verstand ich den Blick, mit dem mich die Leute immer bedacht hatten, das Lippenkräuseln, wenn sie den Namen Haloway hörten. Mitleid, ja â aber auch Abscheu und die Angst vor Ansteckung. Genau so sahen sie den Hund an, während er sich im Kreis drehte, um sich schnappte und sabberte; und dann ein kollektives erleichtertes Aufatmen, als die dritte Kugel ihn schlieÃlich niederstreckte und er aufhörte zu zucken.)
Gerade als ich denke, ich halte es nicht länger aus, streckt Alex seine Hand aus und streicht ganz leicht mit einem Finger über meinen Ellbogen. »Komm, wir machen ein Wettrennen«, sagt er, steht auf und klopft sich den Sand von der Hose. Er reicht mir die Hand und hilft mir hoch, ein Lächeln flackert wieder über sein Gesicht. In diesem Augenblick bin ich ihm unendlich dankbar. Er verwendet meine Familiengeschichte nicht gegen mich. Er hält mich nicht für schmutzig oder beschädigt. Als ich stehe, habe ich das Gefühl, dass er kurz meine Hand drückt, eine schnelle Bewegung, und ich bin erschrocken und glücklich und muss an Hanas und mein Geheimzeichen denken.
»Nur, wenn du was für totale Demütigung übrighast«, sage ich.
Er hebt die Augenbrauen. »Du glaubst also, du könntest mich schlagen?«
»Das glaube ich nicht. Ich weià es.«
»Werden wir ja sehen.« Er legt den Kopf schräg. »Also, wer als Erstes bei den Bojen ist, okay?«
Das haut mich um. Allzu weit zieht sich das Meer in der Casco Bay bei Ebbe nicht zurück; die Bojen treiben immer noch auf gut einem Meter Wasser. »Du willst ins Meer rausrennen?«
»Angst?«, fragt er grinsend.
»Ich hab keine Angst, ich will nur â¦Â«
»Gut.« Er streckt den Arm aus und streicht mit zwei Fingern über meine Schulter. »Wie wärâs dann mit etwas weniger Reden und etwas mehr ⦠Los! «
Das letzte Wort ruft er und dann rast er los. Ich brauche zwei ganze Sekunden, bevor ich hinter ihm herrenne, und brülle: »Das ist unfair! Ich war noch nicht so weit!«, und wir lachen beide, als wir in unseren Kleidern durch das seichte Wasser platschen, wo die kleinen Rillen und Versenkungen des Meeresbodens durch die Ebbe sichtbar geworden sind. Muschelschalen knirschen unter meinen FüÃen. Ich bleibe mit dem Zeh in einer Schlinge aus rotem und purpurfarbenem Seetang hängen und falle beinahe auf die Nase. Mit einer Handfläche fange ich mich ab und komme wieder ins Gleichgewicht, habe Alex beinahe eingeholt, als er sich bückt, eine Handvoll Sand aufhebt und sich umdreht, um mich damit zu bewerfen. Ich kreische und ducke mich, aber ein bisschen davon erwischt mich trotzdem an der Wange und tropft meinen Hals hinunter.
»Du bescheiÃt!«, stoÃe ich hervor, auÃer Atem vom Rennen und Lachen.
»Man kann nicht bescheiÃen, wenn es keine Regeln gibt«, sagt Alex über die Schulter.
»Keine Regeln also?« Wir platschen jetzt bis zum Schienbein durchs Wasser und ich fange an, ihn nass zu spritzen, sprenkele ein Muster auf seinen Rücken und seine Schultern. Er dreht sich um und fährt mit dem Arm über die Wasseroberfläche, erzeugt einen glitzernden Bogen. Ich drehe mich weg, um ihm auszuweichen, rutsche aus und falle ins Wasser, wobei meine Shorts und die untere Hälfte meines T-Shirts klatschnass werden. Von der plötzlichen Kälte muss ich nach Luft schnappen. Alex kämpft sich weiter vorwärts, den Kopf zurückgelegt, sein Lächeln strahlend. Sein Gelächter perlt so laut auf und davon, dass ich mir vorstelle, wie es an der
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