Delphi Saemtliche Werke von Karl May Band II (Illustrierte) (German Edition)
eine Salve, und ich sah, wie sich die Männer in einzelnen größeren oder kleineren Gruppen nach dem Grabmale begaben.
»Was thun sie dort?« fragte ich Ali Bey.
»Sie holen sich ihr Fleisch von den Opferstieren.«
»Giebt es eine gewisse Aufsicht dabei?«
»Ja. Nur die Armen kommen. Sie treten nach ihren Stämmen und Wohnsitzen zusammen, deren Anführer sie begleitet oder von dem sie eine Bescheinigung vorzeigen.«
»Eure Priester erhalten keinen Teil des Fleisches?«
»Von diesen Stieren nicht; am letzten Tage des Festes aber werden einige Tiere geschlachtet, welche weiß, ganz weiß sein müssen, und deren Fleisch gehört den Priestern.«
»Können eure Priester Sünde thun?«
»Warum nicht? Sie sind doch Menschen!«
»Auch die Pirs, die Heiligen?«
»Auch sie.«
»Auch Mir Scheik Khan?«
»Ja.«
»Glaubst du, daß auch der große Heilige Scheik Adi Sünde gethan hat?«
»Auch er war ein Sünder, denn er war nicht Gott.«
»Laßt ihr eure Sünden auf eurer Seele liegen?«
»Nein, wir entfernen sie.«
»Wie?«
»Durch die Symbole der Reinheit, durch das Feuer und das Wasser. Du weißt, daß wir uns bereits gestern oder heute gewaschen haben. Dabei erkennen wir unsere Sünde und geloben, sie von uns zu thun; dann werden sie vom Wasser fortgenommen. Und heute abend wirst du sehen, daß wir unsere Seelen auch durch die Flamme reinigen.«
»Du glaubst also, daß die Seele nicht mit dem Leibe stirbt?«
»Wie könnte sie sterben, da sie von Gott ist!«
»Wie kannst du mir dies beweisen, wenn ich es nicht glaube?«
»Du scherzest! Steht nicht in eurem Kitab: »Japar-di bir sagh solukü burunuje – er blies ihm einen lebendigen Odem in seine Nase?«
»Nun gut! Wenn die Seele also nicht stirbt, wo bleibt sie nach dem Tode des Leibes?«
»Du atmest die Luft wieder ein, nachdem du sie ausgeatmet hast. Auch Gottes Odem geht wieder zu ihm zurück, nachdem er von Sünden rein geworden ist. – Laß uns nun aufbrechen!«
»Wie weit ist es bis Kaloni?«
»Man reitet vier Stunden lang.«
Unten standen unsere Pferde. Wir stiegen auf und verließen ohne alle Begleitung das Thal. Der Weg führte an der steilen Bergwand empor, und als wir die Höhe derselben erreicht hatten, sah ich ein dicht bewaldetes, von zahlreichen Thälern durchzogenes Gebirgsland vor mir. Dieses Land wird von den großen Stämmen der Missuri-Kurden bewohnt, zu denen auch die Badinan gehören. Unser Weg führte bald bergab, bald wieder bergauf, bald zwischen nackten Felsen und bald durch dichten Wald dahin. An den Abhängen sahen wir einige kleine Dörfer liegen, aber die Häuser derselben waren verlassen. Hier und da hatten wir die kalten Fluten eines wilden Bergbaches zu durchreiten, der sein Wasser dem Ghomel entgegenschickte, um mit diesem dem Ghazir oder Bumadus zuzufließen, der in den großen Zab geht und sich mit diesem bei Keschaf in den Tigris ergießt. Diese Häuser waren von Weingärten umgeben, neben denen Sesam, Korn und Baumwolle gedieh, und erhielten ein besonders schmuckes Aussehen durch die Blüten und Früchte der sorgsam gepflegten Feigen-, Walnuß-, Granatapfel-, Pfirsich-, Kirschen-, Maulbeer- und Olivenbäume.
Kein Mensch begegnete uns, denn die Dschesidi, welche die Gegend bis Dschulamerik bewohnten, waren schon alle in Scheik Adi eingetroffen, und wir waren bereits zwei Stunden weit geritten, als wir eine Stimme hörten, welche uns anrief.
Ein Mann trat aus dem Walde. Es war ein Kurde. Er hatte sehr weite, unten offene Hosen an, und die nackten Füße steckten in niedrigen Lederschuhen. Der Körper war nur mit einem am Halse viereckig ausgeschnittenen Hemde bekleidet, welches bis zur Wade niederging. Sein dichtes Haar hing in lockigen Strähnen über die Schultern herab, und auf dem Kopfe trug er eine jener merkwürdigen, häßlichen Filzmützen, welche das Aussehen einer riesigen Spinne haben, deren runder Körper den Scheitel bedeckt und deren lange Beine hinten und zur Seite bis auf die Achseln niederhängen. Im Gürtel trug er ein Messer, eine Pulverflasche und den Kugelbeutel, eine Flinte aber war nicht zu sehen.
»Ni, vro’l kjer – guten Tag!« grüßte er uns. »Wohin will Ali Bey, der Tapfere, reiten?«
»Chode t’aveschket – Gott behüte dich!« antwortete der Bey. »Du kennst mich? Von welchem Stamme bist du?«
»Ich bin ein Badinan, Herr.«
»Aus Kaloni?«
»Ja, aus Kalahoni, wie wir es nennen.«
»Wohnt ihr noch in euren Häusern?«
»Nein. Wir haben unsere Hütten bereits
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