Delphi Saemtliche Werke von Karl May Band II (Illustrierte) (German Edition)
bevorstehenden Angriff, doch wurde dieser Gegenstand bald beiseite gelegt, da es sich herausstellte, daß Ali Bey alle erforderlichen Maßregeln mit der größten Sorgfalt getroffen hatte. Dann kam das Gespräch auf Mohammed Emins und meine Person, auf unsere Erlebnisse und gegenwärtigen Absichten.
»Vielleicht kommt ihr dabei in Gefahr und bedürft der Hilfe,« meinte der Mir Scheik Khan. »Ich werde euch ein Zeichen mitgeben, welches euch den Beistand aller Dschesidi sichert, denen ihr es zeigt.«
»Ich danke dir! Es wird ein Brief sein?« fragte ich.
»Nein, sondern ein Melek Ta-us.«
Fast wäre ich wie elektrisiert emporgesprungen. Das war ja die Benennung des Teufels! Das war ja der Name desjenigen Tieres, welches nach den über sie verbreiteten Verleumdungen bei ihren Gottesdiensten auf dem Altare stand und die Lichter verlöschen mußte, wenn die Orgien beginnen sollten! Das war endlich auch der Name derjenigen Legitimation, welche der Mir Scheik Khan jedem Priester anvertraut, den er mit einer besonderen Mission beehrt! Und dieses große, dieses geheimnisvolle Wort, über welches so viel gestritten worden ist, sprach er hier so gelassen aus? Ich nahm eine sehr unbefangene Miene an und fragte:
»Einen Melek Ta-us? Darf ich fragen, was das ist?«
Mit der freundlichen Miene eines Vaters, der seinem unwissenden Sohne eine notwendige Erklärung giebt, antwortete er:
»Melek Ta-us nennen wir jenen, dessen eigentlicher Name bei uns nicht ausgesprochen wird. Melek Ta-us heißt auch das Tier, welches bei uns ein Symbol des Mutes und der Wachsamkeit ist, und Melek Ta-us nennen wir auch die Abbildung dieses Tieres, welche ich jenen verleihe, zu denen ich Vertrauen habe. Ich weiß alles, was man über uns fabelt; aber deine Weisheit wird dir sagen, daß ich uns vor dir nicht zu verteidigen brauche. Ich habe mit einem Manne gesprochen, der in vielen christlichen Kirchen gewesen ist. Er sagte mir, daß dort die Bilder der Gottesmutter, des Gottessohnes und vieler Heiligen seien. Auch ein Auge sollt ihr haben, welches das Symbol des Gottvaters, und eine Taube, welche das Zeichen des Geistes ist. Ihr kniet und betet an den Orten, wo diese Bilder sind, aber ich werde niemals glauben, daß ihr diese Bilder anbetet. Wir glauben von euch das Richtige, und ihr glaubet von uns das Falsche. Wer ist verständiger und gütiger, ihr oder wir? Blicke hin an das Thor! Meinst du, daß wir diese Bilder anbeten?«
»Nein.«
»Du siehst einen Löwen, eine Schlange, ein Beil, einen Mann und einen Kamm. Die Dschesidi können nicht lesen; daher ist es besser, man sagt ihnen durch diese Bilder, was man ihnen sagen möchte. Eine Schrift würden sie nicht verstehen; diese Bilder aber werden sie nie vergessen, weil dieselben am Grabe ihres Heiligen zu sehen sind. Dieser Heilige war ein Mann; darum beten wir ihn nicht an; aber wir versammeln uns an seinem Grabe, wie sich die Kinder am Grabe ihres Vaters versammeln.«
»Er hat euren Glauben gestiftet?«
»Er hat uns unsern Glauben, nicht aber unsere Gebräuche gegeben. Der Glaube wohnt im Herzen, die Sitten aber wachsen aus dem Boden, auf welchem wir leben, und aus dem Lande, welches diesen Boden rings umgrenzt. Scheik Adi hat vor Mohammed gelebt. Zu seiner Lehre sind auch diejenigen Satzungen des Kurans gekommen, welche wir für gut und heilsam erkannt haben.«
»Man erzählte mir, daß er Wunder gethan habe.«
»Wunder kann nur Gott thun; aber wenn er sie thut, so thut er sie durch die Hand der Menschen. Blicke hinein, dort in die Halle! Dort ist ein Brunnen, den Scheik Adi hervorgebracht hat. Dieser ist noch vor Mohammed in Mekka gewesen. Schon damals war Zem-Zem eine heilige Quelle. Er nahm von dem Wasser des Zem-Zem und tropfte es hier auf den Felsen. Sofort öffnete sich derselbe, und das heilige Wasser sprang hervor. So wird uns erzählt. Wir gebieten nicht, dies zu glauben, denn das Wunder ist auch ohne dies da. Oder ist es kein Wunder, wenn aus dem harten, toten Stein das lebendige Wasser fließt? Dieses ist bei uns ein Symbol der Reinheit unserer Seele, und darum halten wir es für heilig, nicht aber, weil es von der Quelle Zem-Zem stammen soll.«
Mir Scheik Khan brach seine Rede ab, denn jetzt öffnete sich das äußere Thor, um einen langen Zug von Pilgrimen einzulassen, von denen ein jeder eine Lampe trug. Diese Lampen waren die Dank- und Weihgeschenke für die Heilung einer Krankheit oder die Rettung aus irgend einer Gefahr. Sie waren für Scheik Schemsbestimmt, das
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