Delphi Saemtliche Werke von Karl May Band II (Illustrierte) (German Edition)
ablösen. Sie theilten uns mit, daß der Bau rasch vor sich schreite.
Als wir den Eingang erreichten, bot sich uns das Bild eines sehr bewegten Lebens dar. In der Mitte desselben war eine große Anzahl von Frauen versammelt, welche auf großen, flachen Steinen Mehl aus Körnern bereiteten; Andere saßen an Gruben, welche sie durch Feuer erhitzten, um Brod zu backen; noch Andere machten Fackeln oder richteten die Lampen und Laternen, die man vorgestern aus Scheik Adi mitgenommen hatte, zu der bevorstehenden Feier her. Am regsamsten aber ging es im oberen Theile des Thales zu, wo das Grabmal errichtet wurde. Es stellte eine ungeheure Felspyramide dar, deren hintere Seite sich an die steile Wand des Felsens lehnte. Das Fundament bestand aus großen Blöcken, deren Transport und Aufbau jedenfalls bedeutenden Kraftaufwand gekostet hatte. In der Mitte der voraussichtlichen Höhe war ein hohler Raum gelassen, welcher die Gestalt einer zwölfstrahligen Sonne hatte und von deren Mittelpunkt die Urne aufgenommen werden sollte. Mehrere hundert Männer arbeiteten daran, und noch mehr Frauen und Kinder waren beschäftigt, Steine herbeizuwälzen, oder hingen wie Eichhörnchen an den Vorsprüngen der Felsenwand, um von oben herab dem Baue förderlich zu sein.
Die Priester waren theils mit der Beaufsichtigung des Werkes beschäftigt, theils legten sie selbst mit Hand an. Mir Scheik Khan saß in der Nähe der Pyramide. Wir gingen zu ihm. Ali Bey erzählte ihm die heutigen Vorkommnisse und zeigte ihm auch die beiden Schreiben des Mutessarif. Der Khan versank in tiefes Nachdenken; dann aber frug er:
»Was wirst Du thun, Ali Bey?«
»Du bist der Ältere und der Weisere; ich komme, mir Deinen Rath zu erbitten.«
»Du sagst, ich sei der Ältere. Das Alter liebt die Ruhe und den Frieden. Du sagst, ich sei der Weisere. Die größte Weisheit ist der Gedanke an den Allmächtigen und Allgütigen. Er macht den Schwachen stark; er beschützt den Unterdrückten; er will nicht, daß der Mensch das Blut seines Bruders vergieße.«
»Sind diese Türken unsere Brüder? Sie, die wie wilde Thiere über uns und die Unserigen herfallen?«
»Sie sind unsere Brüder, obgleich sie nicht als Brüder an uns handeln. Tötest Du einen Bruder, der Dir übel will?«
»Nein.«
»Du sprichst mit ihm freundlich oder streng, aber Du forderst nicht sein Leben. So sollst Du auch mit dem Mutessarif reden.«
»Und wenn er nicht auf mich hört?«
»Der Allerbarmer gab dem Menschen den Verstand, um zu denken, und ein Herz, um zu fühlen. Wer nicht die Rede eines Anderen überdenkt, und wer nicht die Gefühle seines Bruders empfindet, der hat den Erbarmenden verlassen und verleugnet, und dann, erst dann darf der Zorn und die Strafe über ihn kommen.«
»Mir Scheik Khan, ich werde nach Deinen Worten handeln!«
»So wiederhole ich meine Frage: Was wirst Du thun?«
»Ich werde mit zehn Männern nach Dscherraijah gehen, mir aber genug Krieger folgen lassen, um den Mutessarif gefangen zu nehmen. Vorher aber, bereits noch heute, werde ich Kundschafter nach Mossul, Kufjundschik, Telkeif, Baaweiza, Ras ul Aïn und Khorsabad senden, welche mich rechtzeitig von seinen Plänen benachrichtigen werden. Ich werde in Liebe mit ihm reden, dann mit Strenge, wenn er nicht hört. Achtet er auch dann nicht auf mich, so lasse ich ihn seinen geheimen Brief sehen und gebe das Zeichen, ihn zu ergreifen. Während ich bei ihm bin, werden meine Männer Dscherraijah umringen. Er kann mir nicht entgehen.«
»Vielleicht wird er auch Kundschafter senden, um zu erfahren, wie Du Dich auf die Zusammenkunft mit ihm vorbereitest.«
»Er wird nichts erfahren, denn meine Leute werden bereits während der Nacht von hier abgehen, und zwar nicht auf der Straße über Baadri, sondern rechts bis fast nach Bozan hinüber. Sie werden am Morgen am Bache im Westen von Dscherraijah sein.«
»Und wer wird während Deiner Abwesenheit in Scheik Adi befehligen?«
»Willst Du es thun?«
»Ich will.«
Das klang so einfach. Hier übergab der weltliche Beherrscher der Dschesidi ihrem geistlichen Regenten seine Gewalt ohne die leiseste Regung einer kleinlichen Eifersucht, ohne alles Mißtrauen und Bedenken. »Willst Du?« frug der Eine. »Ich will,« antwortete der Andere. Welchen Klang mag wohl das Wort ›Culturkampf‹ in einem der Dialekte dieser Teufelsanbeter haben!
Es wurde nun die Verproviantierung der in Scheik Adi eingeschlossenen Türken besprochen und dann das heutige Fest. Unterdessen wanderte
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