Delphi Saemtliche Werke von Karl May Band II (Illustrierte) (German Edition)
dem Begräbnisse eines der angesehensten Teufelsanbeter beigewohnt hatte. Ich saß an der Kante des Thales und blickte hinab, bis sich die Schatten der Nacht niedersenkten. Da leuchteten rundum die Wachtfeuer wieder auf, und zugleich wuchs über dem Heiligthume langsam eine Doppelpyramide von Lichtern empor, grad so wie am ersten Abend, den ich in Scheik Adi zugebracht hatte. Die beiden Thüren des Grabmales wurden mit Lampen behangen.
»Komm!« ermunterte mich Ali Bey, der mit einigen Bevorzugten zu Pferde stieg.
Der Baschi-Bozuk blieb zurück. Halef begleitete uns. Wir ritten in das Thal hinab und langten vor dem Heiligthume an, welches vollständig erleuchtet worden war. Der Platz vor demselben wurde von einer doppelten Reihe bewaffneter Dschesidi eingeschlossen, um jedem Türken den Zutritt zu versagen. Im Heiligthume selbst befand sich nur Mir Scheik Khan mit den Priestern; Andern außer Ali Bey und mir war der Eintritt nicht gestattet. Im innern Hofe standen zwei eng neben einander gekoppelte Maulthiere, die ein quer über ihre Rücken liegendes Gestell trugen, auf welchem die Urne befestigt war. Um diese beiden Thiere hatten die Priester einen Kreis gebildet. Sie begannen bei unserm Erscheinen in sehr langsamem Tempo einen monotonen Gesang, in welchem die Worte »dschan dedim – ich gebe meine Seele hin« sehr oft wiederkehrten. Nach demselben wurden die Maulthiere mit Wasser aus dem heiligen Brunnen getränkt und erhielten einige Handvoll Körner, um anzudeuten, daß der, den sie trugen, eine weite Reise vor sich habe. Nun machte der Mir Scheik Khan einige Zeichen mit der Hand, deren Bedeutung ich nicht verstand, und jetzt begann ein zweiter Gesang, leise und harmonisch. Er hatte vier Absätze, deren jeder mit den Worten: »Tu Chode dehabini, keif inim – Du liebst Gott, genieße Ruhe« begann. Leider verstand ich zu wenig Kurdisch, um das Ganze begreifen und merken zu können.
Als dieser Gesang beendet war, gab der Khan ein Zeichen. Er stellte sich an die Spitze; zwei Scheiks nahmen die Maulthiere am Zügel; ihnen folgten paarweise die andern Scheiks und Kawals, denen sich Ali Bey mit mir anschloß. Der Zug setzte sich in Bewegung und wurde, als er aus dem Heiligthume trat, von einer Salve der Wachehaltenden empfangen.
Sofort krachten auf den Höhen Hunderte von Schüssen, und aber Hunderte trugen die Botschaft, daß wir aufgebrochen seien, dem Thale Idiz entgegen.
Wir zogen langsam zur Höhe empor. Als wir den Weg nach dem Thale erreichten, bot sich uns ein zauberischer Anblick dar. Die Dschesidi hatten von Scheik Adi bis Idiz ein Spalier gebildet, dessen Doppelglieder ungefähr dreißig Schritte aus einander standen. Jeder dieser Männer trug eine Fackel und eine Flinte, und jedes dieser Glieder schloß sich unter Abfeuern der Gewehre hinter uns an. So bildete sich ein Zug, der mit jedem Augenblicke und mit jedem Schusse immer länger wurde. Das Licht der Fackeln schmückte den dunkeln Wald, welcher hier meist aus hohen Eichen bestand, mit unbeschreiblichen Tinten, und der Donner der Salven wurde von den dunkeln Gründen des tiefen Forstes ununterbrochen zurückgeworfen.
Wahrhaft überwältigend aber wurde das Schauspiel, als wir endlich das Thal erreichten. Dasselbe schien der mächtige Krater eines Vulkanes zu sein, in dessen Grunde riesige Flammen loderten, zwischen denen Tausende von Geistern mit Leuchten und Lichtern irrten. Ein mehrtausendstimmiger Ruf hieß uns willkommen und in der Zeit einiger Sekunden hatten sich sämmtliche Lichter zu beiden Seiten der Thalsohle geordnet. Der große, weite Kessel war förmlich tageshell erleuchtet. Das größte Licht aber verbreiteten zwei gigantische Feuer, deren Flammen, von riesigen Scheiterhaufen genährt, zu beiden Seiten der Felsenpyramide an der nackten Wand des Thales emporkletterten. Es überkam mich jenes ›süße Grauen‹, welches, wohltuend und niederbeugend zu gleicher Zeit, das Menschenherz ergreift, sobald etwas Erhabenes hereingreift in die Grenzen unserer kleinen, inneren Welt.
Wir zogen den Abhang hinunter, zwischen dem wallenden Meere der Fackeln hindurch, und hielten vor dem Denkmale. In der sonnenförmigen Aushöhlung desselben standen zwei Priester, deren weiße Gewänder von dem dunkeln Gestein lebhaft abstachen. Hoch oben hatten sich mehrere Männer postirt, welche die Seile hielten, an denen die Urne emporgezogen werden sollte.
Sobald die Maulthiere vor der Pyramide anlangten, verstummten die Schüsse; es trat eine tiefe
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